Die magische Kurzform des Kreativen Briefings

Etwas so einfaches dürfte eigentlich keine so weitreichenden, langfristigen Auswirkungen auf die Qualität der Arbeit eines Teams haben. Aber überraschenderweise ist es so.

Zum ersten Mal haben wir es bei einem Kunden gesehen. Es war dieses seltsame Ritual am Anfang eines jeden Meetings über das Interaktionsdesign.

Eines der Teammitglieder – immer eine andere Person – liest exakt dasselbe Dokument laut vor, Wort für Wort. Das Dokument, ungefähr eine dreiviertel Seite lang, enthält ein knappes Kreativ-Briefing darüber, woran das Team arbeitet. Mit dem lauten Vorlesen beginnt jedes ihrer Meetings, egal ob es sich um ein Brainstorming oder ein Review handelt.

Typischerweise nimmt dieses Ritual, das ein bisschen an ein Treuebekenntnis erinnert, kaum zwei Minuten ein. Dennoch ändert es den Tenor eines jeden Meetings komplett.

Sicherstellen, dass alle am selben Projekt arbeiten

Wie so viele Teams, hat auch dieses mehrere Projekte gleichzeitig laufen und für jedes Projekt gibt es ein anderes Kreativ-Briefing. Durch das Vorlesen des Briefings für ein spezifisches Projekt am Anfang eines jeden Meetings stellt das Team sicher, dass jedem im Raum klar ist, worüber anschließend diskutiert wird.

Was nach dem Vorlesen passiert, ist ebenfalls sehr interessant. Der Projektleiter wendet sich an das Team und stellt immer dieselbe Frage: "Sind wir uns einig, dass es das ist, woran wir heute arbeiten?" Meistens nicken alle zustimmend. Gelegentlich fragt aber jemand, was mit einem bestimmten Satz genau gemeint ist, und es kommt zu einer kurzen Diskussion, in der ein wichtiges Detail geklärt wird.

In einigen Meetings brechen auch Diskussionen darüber aus, ob die Details des Briefings noch relevant sind, nachdem es seit dem letzten Meeting eine Richtungsänderung im Gesamtprojekt gegeben hat. Das Team nutzt diese Gelegenheit, um darüber zu diskutieren, inwiefern diese Änderungen spezifische Teile des Interaktionsdesigns berühren. Manchmal läuft dies auf die Überarbeitung des Kreativen Briefings hinaus. (In einem Fall war die Änderung substanziell genug, dass das geplante Design-Review so lange aufgeschoben wurde, bis die neue Ausrichtung in das Dokument integriert war.)

"Wohin gehen wir?" von "Wie gehen wir dahin?" trennen

Das Besprechen des Kreativen Briefings am Anfang eines Meetings führt zu einem interessanten Effekt, an den wir zuvor nicht gedacht hatten: Es verändert die Diskussionen insofern, dass wir nicht nur diskutieren, wohin wir mit unserem Interaktionsdesign wollen, sondern immer auch den aktuell eingeschlagenen Weg reflektieren.

Es ist wichtig, über die Ziele eines Projekts zu sprechen. Oft haben wir diese Diskussionen nur im Rahmen des Kickoffs. Dann springen wir in die Detailarbeit der Durchführung und schauen nie mehr zurück.

Allerdings ändern sich die Dinge. Neue Leute kommen an Bord. Das Unternehmen überarbeitet sein Produkt- und Leistungsportfolio. Marktentwicklungen und neue Technologien entfalten ihre Auswirkungen. Wir stoßen an Grenzen und auf Herausforderungen, die uns dazu zwingen, das, was wir tun, neu zu durchdenken.

Es ist ein brillanter Schachzug, am Anfang jedes Meetings einen Moment der Diskussion über diese Änderungen zu widmen und sicherzustellen, dass Einigkeit dahingehend herrscht, auf welchem Weg sich das Projekt gerade befindet. Es bewahrt vor einer Litanei zeitverschwenderischer Aktivitäten, die anfallen, wenn Leute konträre Meinungen darüber haben, was sie da entwickeln, für wen sie es tun und warum die Anwendung dadurch besser wird. Das Vorlesen des kurzen Kreativ-Briefings nimmt diesen endlosen Debatten den Nährboden und hilft dem Team, sich auf die naheliegende Frage zu konzentrieren: Bringt uns dieses Design dort hin, wo wir hinwollen?

Was ist die Kurzform des Kreativen Briefings?

Der Trick des Kreativ-Briefings ist in unserem Fall seine Kürze. Wir haben Briefings gesehen, die alles andere als kompakt waren: 200 Seiten starke Schinken, die wir "Knallbücher" nennen, weil es ordentlich kracht, wenn man so eine Schwarte auf den Tisch wirft. Es wäre nicht sinnvoll, diese Wälzer, gefüllt mit allen erdenklichen Gedanken und Forschungsergebnissen über das Projekt, in jedem Meeting laut vorzulesen. Allenfalls lesen wir sie ein Mal und vergessen sie dann schnell.

Stattdessen hat dieses Team das Kreative Briefing auf vier Schlüsselkomponenten heruntergekürzt: Das Projektziel, die Schlüssel-Personas, für die sie entwickeln, die Schlüsselszenarien, in denen die Personas mit dem Design interagieren, und das Schlüsselprinzip für diesen Projektabschnitt. Dazu gibt es jeweils nur ein paar Sätze. Das Kreativ-Briefing ist schnell erstellt und bei der Eröffnungszeremonie des Meetings noch schneller vorgelesen.

Teil 1: Das Projektziel. Hier handelt es sich um zwei bis drei einfache Sätze darüber, was in diesem spezifischen Projektabschnitt erreicht werden soll. Ein Team arbeitete beispielsweise an einer Call-Center-Applikation für Reservierungen durch Service-Mitarbeiter von Airlines, im Projekt ging es konkret darum, die Betreuung von verzweifelten Fluggästen zu verbessern, die sich mit unerwarteten Flugplanänderungen konfrontiert sehen.

Ziel: Baue eine automatische Sidebar-Auswahl, die erscheint, wenn der Passagier anruft. Die Anwendung erkennt, dass die ursprüngliche Route umgeplant werden muss und bietet dem Service-Mitarbeiter die besten neuen Reiseoptionen an, um sie dem Passagier zu empfehlen.

Der Punkt ist, das Ziel einfach zu halten, damit das Briefing nicht in all die Beschränkungen und Anforderungen ausufert. All diese Dinge hat das Team aufgeschrieben, aber nicht in diesem Dokument. In diesem finden sich nur so viele Informationen, dass jeder weiß, was in diesem Projektabschnitt erreicht werden soll, relativ zu allen anderen Dingen, an denen das Team zur selben Zeit arbeitet.

Teil 2: Die Schlüssel-Personas. Das Team listet ein oder zwei Personas auf, für die es die aktuelle Funktion entwirft, und greift dabei auf einen größeren Fundus prototypischer Nutzer zurück, die es zuvor entwickelt hat. Die für diesen Projektabschnitt wichtigsten Personas sind im spezifischen Kreativ-Briefing enthalten. Das hilft, Diskussionen über Personas und Szenarien zu vermeiden, die in dieser Runde explizit keine Rolle spielen.

Schlüssel-Persona: Walter, ein Veteran des Reservierungs-Centers und seit 17 Jahren dabei, arbeitet vor allem mit Premium- und Global-Services-Kunden. Er ist ein wandelndes Lexikon über das Reservierungssystem arcana und unterstützt häufig andere Mitarbeiter bei schwierigen Problemen.

Wie jede gute Persona-Beschreibung enthält sie nur die Details, die bei Schlüsselentscheidungen eine Rolle spielen, die das Team treffen muss. Die Personas reflektieren echte Leute, die das Team im Rahmen der Nutzerforschung getroffen hat. Sie sind mit diesen prototypischen Nutzern und ihren Zielen eng vertraut. Und dank des Kreativen Briefings drehen sich die Diskussionen in Meetings oft um die Personas, weil alle Beteiligten sie frisch im Kopf haben.

Teil 3: Die Schlüsselszenarien. Hier beschreibt das Team bis zu drei kurze Szenarien, in denen das Interaktionsdesign funktionieren soll. Wie bei den Personas wählt das Team auch hier aus einem größeren Fundus zuvor definierter Szenarien aus. Während jeder weiß, dass es weitere wichtige Szenarien gibt, ist allen klar, dass diejenigen im Briefing genau die sind, an denen das Team jetzt arbeitet und auf die sich die Diskussion konzentrieren sollte.

Schlüsselszenario: Walter wurde angerufen und um Hilfe gebeten, weil aufgrund eines großen Schneesturms viele Flüge im Bereich des Östlichen Korridors ausgefallen sind. Der aktuelle Anruf kommt von einem Passagier, dessen Flug von Philadelphia nach Denver verspätet ist und dazu führt, dass er seinen einzigen Anschlussflug nach Seattle verpassen wird. Der Kunde braucht eine neue Reiseroute, die ihn heute nach Seattle bringt.

Für einen detaillierten Entwurf enthält dieses Szenario ausreichend Details. Enthält das Kreativ-Briefing ein paar davon, kann das Team verschiedene Blickwinkel austesten und Möglichkeiten finden, die das Interaktionsdesign voranbringen.

Teil 4: Die wichtigsten Prinzipien. Wie viele Teams hat auch dieses mehrere Kernprinzipien formuliert, an denen sich das Interaktionsdesign orientiert. Im Briefing sind ein oder zwei Prinzipien enthalten, auf die das Team sich bei dieser Iteration fokussieren will. Mit dem Fortschritt des Designs treten andere Prinzipien in den Vordergrund und finden dementsprechend Eingang in das Dokument, sodass im Projektverlauf alle gleichermaßen berücksichtigt werden.

Schlüsselprinzip: Zufriedenheit des Passagiers über Effizienz des Systems. Das Interaktionsdesign soll zu einem tollen Erlebnis für den Passagier führen, selbst wenn höhere Kosten oder Ineffizienz im Flugsystem entstehen.

Auch die Prinzipien beruhen auf der Nutzerforschung des Teams und den Erkenntnissen darüber, was Passagiere frustriert und welche Voraussetzungen angenehme Service-Erlebnisse haben. Das Team hat ein halbes Dutzend Prinzipien und wählt für jede Iteration ein anderes.

Ein einfaches, aber effektives Ritual

Als wir dieses Ritual anderen Kunden vorgestellt haben, waren wir schockiert davon, wie erfolgreich es ist. Weil diese Technik so einfach ist, kann sie ganz leicht in den bestehenden Prozess integriert werden. Dank ihrer Eleganz funktioniert diese Lösung so gut.

Ein kurzes, präzises Kreativ-Briefing fokussiert unsere Diskussionen und trägt zu produktiven Meetings bei. Das Ergebnis ist ein besseres Interaktionsdesign, zu dem regelmäßig konstruktives Feedback eingeht - ohne den Ballast der allgegenwärtigen Missverständnisse und Reibungsverluste, den Teams oft mit sich herumtragen müssen.

Dieser Artikel wurde im Original am 3. Mai 2012 unter dem Titel The Magical Short-Form Creative Brief von Jared M. Spool veröffentlicht. Jared M. Spool gehört zu den führenden Usability-Experten unserer Zeit. Seine Website erreichen Sie unter http://www.uie.com. Weitere Artikel von Jared M. Spool finden Sie im Usability-Special von //SEIBERT/MEDIA.

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