Das ideale Usability-Team: Spezialisten, Generalisten oder Scheuklappenträger

Dr. Steven Margles ist ein weltweit angesehener Orthopäde für Hände und Handgelenke an der Lahey-Klinik in Burlington. Menschen aus aller Herren Länder suchen bei ihm Hilfe und Hersteller von chirurgischen Geräten seinen Rat. Er gehört zu den besten Hand- und Handgelenkstypen der Welt. Dr. Margles ist ein Spezialist.

Elf Meilen westlich in Concord steht das Emerson Hospital. Dort finden wir einen orthopädischen Stab von sechs Ärtzten, die allesamt sehr kompetent sind. Aber keiner von ihnen ist Spezialist für Hände und Handgelenke. Sie arbeiten an jedem Körperteil, das man ihnen hinhält. Sie sind ebenso gut wie Dr. Margles und die anderen Spezialisten an der Lahey-Klinik, sie haben nur andere Schwerpunkte.

Fünf Autostunden nordöstlich stoßen wir in Lincoln auf das Valley Hospital. In diesem 24-Betten-Krankenhaus arbeiten zwei Chirurgen, die aber weder auf Orthopädie noch auf eine andere Behandlungsmethode spezialisiert sind. Natürlich ist die Chirurgie an sich eine sehr spezielle Wissenschaft, die sich ziemlich von der Allgemeinmedizin oder der Geburtshilfe unterscheidet. Da diese beiden Chirurgen aber heute voraussichtlich keinem Baby auf die Welt verhelfen werden, können sie sich einer Hüftoperation oder dem Legen eines Bypasses widmen.

Jedes dieser Krankenhäuser hat sich dafür entschieden, Fachleute einzustellen. Was für Experten das sind, hängt von den Bedürfnissen der Menschen ab, die sich in diesen Hospitälern behandeln lassen. Woher wissen die Verantwortlichen aber, was für eine Art von Doktor sie einstellen sollen?

Ein Team aufbauen: Suchen Sie einen Spezialisten?

Wenn ein Usability-Team zusammengestellt wird, stellt sich dieselbe Frage: Woher wissen Sie, was für Usability-Fachleute Sie brauchen?

Spezialisten sind Profis, die durch Zeit, Erfahrung und die richtigen Projekte tief in eine Disziplin eingestiegen sind, das können Informationsarchitekturen oder das Visual Design sein.

Sie können sich auf eine Disziplin konzentrieren, sind ungemein sachkundig und sehr erfahren im Lösen von Problemen. Oft erweist es sich als wertvoll, einen Spezialisten an Bord zu haben, denn er weiß die vielen Feinheiten zu handhaben, die mitunter über Erfolg oder Scheitern eines Projekts entscheiden.

Der Wert des Generalisten

Generalisten sind Profis, die eine große Bandbreite von Fähigkeiten erwerben, weil ihre Zeit und ihre Projekte dies verlangen. Es ist heutzutage keinesfalls unmöglich, auf einen Generalisten zu treffen, der sich mit Informationsarchitekturen, Usability-Tests, Interaktions-Design, Visual Design und vielleicht sogar mit Programmierung auskennt.

Weil sie kontinuierlich zwischen verschiedenen Disziplinen pendeln, können sie ihr Fachwissen auf einem einzelnen Gebiet nicht in dem Maße ausbauen wie ein Spezialist. Andererseits haben sie den großen Vorteil, dass sie die Schnittstellen zwischen den verschiedenen Bereichen genau kennen. Sie sind deshalb so extrem wertvoll, weil sie Probleme und Details aus verschiedenen Perspektiven betrachten und das Projekt um eine ganzheitliche Sichtweise bereichern.

Die Falle der Scheuklappenträger bzw. der Abschottung

Machen Sie jetzt bitte nicht den Fehler wie so viele und bringen Spezialisierung und Abschottung durcheinander. Ersteres heißt, dass Sie den Großteil Ihrer Erfahrungen in einer einzelnen Disziplin gesammelt haben, während das zweite bedeutet, dass Ihre Erfahrungen ausschließlich aus diesem Fachgebiet stammen. Dr. Magles bevorzugt es zwar, Hände und Handgelenke zu behandeln, bei Bedarf könnte er aber auch an anderen Körperteilen arbeiten. Wäre er der einzige Doktor auf der Insel, würden Sie ihn mit Sicherheit bitten, das Baby ans Tageslicht zu befördern. Und dank seiner medizinischen Ausbildung und seiner Erfahrung würden seine Bemühungen auch von Erfolg gekrönt sein.

Ein Scheuklappenträger isoliert sich von anderen Disziplinen, er lernt keine Zusammenhänge kennen, weiß nicht wirklich, was er tut und wie er es tut. Abschottung ist schlecht für Teams: Sie müssen stets für genug Arbeitsauslastung in dieser Einzeldisziplin sorgen, und wenn sich die Anforderungen einmal verändern oder Notfälle eintreten, verringert sich der Wert des Scheuklappenträgers für das Team dramatisch.

Die spezifischen Anforderungen entscheiden

Bleiben also Generalisten und Spezialisten, um das Team zu besetzen. Für wen entscheiden Sie sich?

Wir haben eingehend untersucht, was ein erfolgreiches Team ausmacht, und wir wissen, dass die Antwort von den individuellen wirtschaftlichen Gegebenheiten und seiner spezifischen Situation abhängt. Manche Unternehmen werden sogar Bedarf an einer Gruppe von Spezialisten haben.

Das ist in der Lahey-Klinik der Fall. Sie haben genug Durchgangsverkehr und es gibt reichlich Arbeit, die es rechtfertigt, mehrere Chirurgen zu beschäftigen, von denen jeder auf eine bestimmte Richtung spezialisiert ist. Auf einen Termin bei Dr. Margles müssen Sie sechs Wochen warten. Er ist ausgelastet und hat keine Schwierigkeiten, beschäftigt zu bleiben. Und weil es in dieser orthopädischen Einrichtung mehr als 20 Ärzte gibt, finden auch Patienten mit Problemen an der Schulter oder am Sprunggelenk einen Spezialisten oder Generalisten, der ihnen hilft.

Emerson ist eher ein lokales Hospital mit einem Einzugsgebiet, das als Boston West bekannt ist. Die Klinik hat nicht genügend Patienten, als dass sich absolute Spezialisten für jedes Gebrechen lohnen würden. Also müssen ihre orthopädischen Chirurgen orthopädische Alleskönner sein. Es gibt in dieser speziellen Region einfach nicht genug Hand- und Handgelenks-Problemfälle für einen Spezialisten.

Penobscot Valley ist eine ländliche Klinik. Die Chirurgen können einfache orthopädische Probleme lösen, aber wenn eine Spezialbehandlung nötig wird, schicken sie den Patienten zu jemanden in Portland oder Boston. (Die Fortschritte in der Telemedizin erleichtern es Spezialisten, sich von großstädtischen Krankenhäusern aus mit ihren Kollegen auf dem Lande zu beraten, wenn es nötig ist. Dies ist das Äquivalent zur Anstellung eines auswärtigen Spezialisten für ein einzelnes komplexes Projekt.)

Es ist verlockend, Spezialisten einzustellen, aber zunächst muss der Bedarf bestehen. Gibt es nicht genug Arbeit, um sie beschäftigt zu halten, werden sie sich schnell in Generalisten verwandeln.

Generalisten können gleichsam zu Spezialisten werden, wenn bestimmte Fähigkeiten regelmäßig praktiziert werden. Beispielsweise kann ein Interaktions-Designer in einem Finanzdienstleistungsunternehmen sehr spezielles Know-how rund um Probleme im Account Management erwerben, weil er im Verlauf seiner Amtszeit viele verschiedene solcher Szenarien kennengelernt hat.

Bei der Entscheidung, welcher neue Mitarbeiter einem Team Vorteile verschafft und ihm bei der Verbesserung seiner Fähigkeiten hilft, geben die spezifischen Gegebenheiten die Richtung vor.

Wissen teilen: Der Spezialist als Trainer

Unsere Untersuchungen zur erfolgreichen Teambildung haben noch einen weiteren interessanten Trend aufgezeigt: Teams, die ihre Spezialisten als lokale Trainer einsetzen.

Ein Beispiel: Ein Unternehmen hat die Anzahl der Usability-Tests reduziert, die von ihrem erfahrensten Usability-Profi geleitet wurden, obwohl der Bedarf an User-Tests gestiegen war. Der Team-Manager erkannte, dass dieser Bedarf vom bestehenden Team nicht zu befriedigen war, und nahm zugleich an, nicht genug Personal einstellen zu können, um die Lücke zu füllen.

Also setzten sie auf eine andere Strategie. Sie haben die sehr erfahrenen Leute von der Projektarbeit entlastet und sie gebeten, mehr Zeit darin zu investieren, ihren Kollegen die Forschungsmethoden beizubringen. Dieses Training hat die Gesamtheit der Fähigkeiten der Gruppe verbessert und insbesondere mehr Alleskönner hervorgebracht. Die erfahrenen Leute leiten zwar nach wie vor die sehr komplexen Projekte, doch nahezu jeder andere Kollege kann die vergleichsweise einfachen Tests durchführen.

Die Komplettheit der Team-Fähigkeiten

Was ein effektives Usability-Team ausmacht, ist die Komplettheit des Fähigkeiten-Portfolios quer durch das gesamte Team. Die Rolle des Einzelnen ist sekundär – ein Team aus Generalisten wird immer flexibler sein als eine Zusammenstellung von Spezialisten.

Spezialisten sind dann hilfreich, wenn die Gegebenheiten ihre Anwesenheit rechtfertigen. Da Spezialisten über ein sehr breites Wissen verfügen, können sie flexibel sein und auf eine sehr produktive Weise mit dem Rest des Teams interagieren.

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Dieser Artikel wurde im Original 17. November 2008 unter dem Titel „Ideal UX Team Makeup: Specialists, Generalists, or Compartmentalists“ von Jared M. Spool veröffentlicht. Jared M. Spool gehört zu den führenden Usability-Experten unserer Zeit. Seine Website erreichen Sie unter http://www.uie.com. Weitere Artikel von Jared M. Spool finden Sie im Usability-Special von //SEIBERT/MEDIA.

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