Interaktionsdesign: Etwas nie Dagewesenes entwickeln

Heute arbeiten Interaktionsdesigner in der Regel an Dingen, die bereits existieren. Ob wir etwas weiterentwickeln, das wir selbst erstellt haben, oder ob wir die Idee eines Mitbewerbers weiter vorantreiben – immer können wir nachschauen, was die User tun, um herauszufinden, wie sich das Interaktionsdesign verbessern lässt. Wir verstehen, wie wir die Verbesserungsmöglichkeiten identifizieren können, indem wir bewährte Methoden und Prozesse nutzen.

Allerdings ergeben sich heute häufiger denn je auch Möglichkeiten, an Interaktionsdesignlösungen zu arbeiten, für die es keine bestehenden Modelle gibt, von denen wir ausgehen können. Wir arbeiten in der Welt des nie zuvor Gemachten.

Vielleicht integrieren wir eine neue Technologie in einen Arbeitsablauf, in dem es so etwas noch nicht gegeben hat – man denke nur an Handheld-Geräte in der Medizin. Vielleicht bieten wir den Leuten neue Einsichten an, weil wir Informationen auf eine nie dagewesene Art und Weise kombinieren können, wie es heute in der Big-Data-Welt geschieht. Oder wir entwickeln einen Weg, durch den Nutzer voneinander lernen und vom Wissen und den Erfahrungen anderer User profitieren können, wie es bei einigen der aufkommenden Crowd-Sourcing-Anwendungen der Fall ist.

Das Arbeiten in der Welt des nie Dagewesenen kann für Interaktionsdesignteams stressig sein. Weil es keine existierenden Lösungen gibt, die wir kopieren oder erweitern können, stehen wir unter größerem Druck als sonst, die richtige Lösung zu finden.

Neue Lösungen sind oft für alte Probleme

Es ist ein kleiner Trost, dass neue Lösungen normalerweise aufkommen, um ein altes Problem zu lösen. Während Ihre Idee die Herausforderung auf eine komplett neuartige Weise löst, hat das Problem an sich womöglich schon lange bestanden, ehe Sie mit Ihren neuen Ideen dahergekommen sind.

Sagen wir, wir arbeiten an einer neuen Anwendung für die Intensivstation eines Krankenhauses. Mit unserer Applikation werden Ärzte, Krankenschwestern und Angehörige den Status des Patienten überwachen und verfolgen können. Es wird verschiedene Plattformen geben – Desktop und mobil –, sodass die Leute sowohl im Krankenhaus als auch unterwegs sehen, was los ist.

Nun, unsere Anwendung ist jedenfalls brandneu. (Okay, es ist sehr wahrscheinlich, dass sie bereits existiert, aber nehmen wir mal an, dass wir die ersten wären, die darüber nachdenken müssen.)

Weil es brandneu ist, können wir nicht einfach nachschauen, was andere gemacht haben, und dann etwas inkrementell Besseres bauen. Es wird ein revolutionär neues Interaktionsdesign – etwas, das die Welt noch nie gesehen hat.

Allerdings existiert das Bedürfnis, den Status eines Patienten zu verfolgen, genau jetzt. Ärzte, Schwestern und Familienmitglieder wollen alle den Minute-für-Minute-Status. Sie wollen sofort wissen, wenn sich etwas Wichtiges ereignet.

Das bedeutet, dass wir diese Interaktionen auch heute studieren können. Obwohl es bislang kein entsprechendes Produkt gibt, können wir sehen, wo kritische Infos an den Leuten vorbeigehen oder wo sie Zeit verlieren, weil sie nicht über die aktuellen Informationen verfügen. Wir können sehen, wie sie diese Probleme mithilfe von Tricks und Workarounds kompensieren.

Das Wichtigste: Wir können sehen, welche Informationen für sie wertvoll sind und welche zweitrangig. Wir können sehen, wann sie bestimmte Infos brauchen und wie sich diese Informationslandschaft mit der voranschreitenden Behandlung des Patienten verändert.

Den Problemraum erkunden

Der Schlüssel bei der Entwicklung nie dagewesener Interaktionsdesignlösungen besteht darin, den sogenannten Problemraum wirklich zu verstehen. Dafür untersuchen wir den Kontext, in dem unser Interaktionsdesign existieren wird.

Aus unseren Büros herauszukommen und die Leute zu besuchen, die unsere Lösung nutzen werden, ist für jede Art von Interaktionsdesign wichtig – und super-kritisch, wenn es um etwas geht, das noch nie zuvor jemand entwickelt hat. Wir wollen überall dorthin sehen, wo das Problem an die Oberfläche tritt, und genau feststellen, wodurch es verursacht wird.

Wenn wir den Problemraum erkunden, wollen wir das gesamte Team mit uns hinaus ins Feld nehmen. Nun ist es natürlich nicht praktikabel, mit fünf oder zehn Leuten auf einer Intensivstation aufzutauchen, sodass wir hier die Gruppe in besser handhabbare Teams aufteilen müssen. Das bedeutet, dass verschiedene Teammitglieder unterschiedliche Aspekte des Problems beobachten. Daher benötigen wir einen guten Syntheseprozess, um das Gesamtproblem zu beschreiben.

Eine Sache, mit der Teams sich selbst in Schwierigkeiten bringen, ist die, dass sie die erste Designlösung adaptieren, die in ihren Köpfen aufpoppt. Stattdessen halten sich die erfolgreichsten Teams mit Lösungen zurück und arbeiten zunächst hart daran, sich auf das Problem einzuschießen. Ein solider Syntheseprozess bewahrt uns davor, zum Entwickeln von Designlösungen überzugehen, ehe wir das Problem vollständig verstanden haben.

Funktionierende Szenarien ausarbeiten

Wenn wir so viele Beobachtungen wir möglich gesammelt haben, müssen wir diese Funde zu etwas synthetisieren, von dem unser Entwicklungsprozess ausgehen kann. Eine tolle Möglichkeit, tief in das Problem einzudringen, besteht darin, die funktionierenden Szenarien zu katalogisieren, die uns bei der Beobachtung der Nutzer aufgefallen sind – eine Sammlung kleiner Geschichten, die beschreiben, was wir während unserer Nutzerforschung gesehen haben. Jedes Szenario beschreibt einen Zeitpunkt, zu dem unser künftiges Interaktionsdesign das Leben der Leute verbessert haben könnte.

Bei der Forschung für unsere Patientenüberwachungsanwendung für Intensivstationen haben wir eine Mutter beobachtet, die wissen wollte, wie ihr genesendes Kind mit der Nahrungsaufnahme zurechtkommt. Das Kind war gerade wieder zu fester Nahrung zurückgekehrt. Die Mutter wollte wissen, wann ihr Sohn wieder von sich aus essen würde – ein untrüglicher Hinweis auf einen wichtigen Schritt im Heilungsprozess.

Als wir darüber nachdachten, dachten wir vor allem darüber nach, wie das System lernen könnte, dass das Kind wieder mit dem Essen begonnen hat. Hätten wir eine Krankenschwester dabei beobachtet, wie sie diese Information in eine Tabelle einträgt, hätte auch das die Grundlage für ein Szenario sein können.

Allerdings zeigt das Szenario "Mutter benachrichtigen" auf, dass uns Informationen fehlen. Wir wissen nicht, woher die Daten kommen. Tatsächlich hatten wir keine Krankenschwester gesehen, die eine Notiz darüber macht, und wir wussten nicht, wie die Belegschaft der Intensivstation das an diesem Tag handhabte. Das war ein Hinweis auf eine Möglichkeit, diesen Teil des Problems mithilfe zusätzlicher Nutzerforschung tiefer zu durchdringen.

Szenarien sind ein tolles Werkzeug für diese Art von Synthese, denn sie helfen dabei, die Lücken in unserem Problemverständnis zu schließen. Dabei ist es wichtig, dass das gesamte Team an der Entwicklung und Dokumentation der Szenarien beteiligt ist. Dieser Prozess formt die Basis für ein gemeinsames Verständnis, das uns hilft, später im Projekt Meinungskriege zu vermeiden.

Ideen generieren, um den Problemraum zu füllen

Ein Studio-Workshop ist eine weitere großartige Möglichkeit zur Erkundung des Problemraums – ironischerweise durch das Erstellen einer Vielzahl von Designlösungen, die es zu testen gilt. Dieses Workshop-Konzept ist ziemlich einfach. Das ganze Team versammelt sich in einem Raum, der mit jeder Menge Zeichenmaterial ausgestattet ist, und beginnt damit, einige schnelle Designvariationen zu entwickeln.

In einem typischen Workshop teilt sich das Team in Dreier- oder Vierergruppen auf. Jede Gruppe fokussiert sich auf ein Szenario. Dann verbringt jedes Gruppenmitglied fünf Minuten damit, so viele verschiedene ganz grobe Designlösungen aufzuzeichnen, wie ihm einfallen. Idealerweise hat jede Person nach jedem Fünf-Minuten-Sprint fünf bis acht Ideen skizziert.

Als nächstes teilen sie die Zeichnungen mit den anderen Mitgliedern ihrer kleinen Gruppe, um inspirierende Ideen einzusammeln, ehe eine weitere Runde schneller Skizzen folgt. Dieser Prozess wird zwei oder drei Mal wiederholt, um so viele Ideen wir möglich zu generieren, alle ohne Bewertung.

In der nächsten Phase nimmt jedes Gruppenmitglied eine oder zwei seiner eigenen Skizzen, die ihm (zumindest teilweise) gefallen, verfeinert sie für weiter acht Minuten und verhilft den Details damit auf die nächste Ebene. Wie in der ersten Skizzen-Phase teilen sie ihre Gedanken mit den anderen Leuten in der Gruppe, ehe sie an einer weiteren Verfeinerung arbeiten. Auch das passiert wieder einige Male.

Gegen Ende der ersten Stunde sollte jeder im Workshop Dutzende Ideen skizziert haben und dabei sein, sich durch die interessantesten zu arbeiten. Dann können in einer Show-and-Tell-Session alle damit beginnen, ihre Gedanken zu teilen, indem sie über die guten Ideen sprechen und über die Stellen, über die noch weiter nachgedacht werden muss.

Das Schöne an einem Studio-Workshop ist, dass schnell ein funktionierendes Vokabular für das Interaktionsdesign generiert wird, und zwar sowohl durch die Skizzen als auch durch die Spachverwendung bei der Diskussion. Bei künftigen Gesprächen über das Problem, das das Interaktionsdesign lösen soll, und über die Möglichkeiten, wie es das Problem lösen kann, dient dieses Vokabular dann als Grundlage.

Etwas noch nie Gemachtes anpacken

Legt man das grundsätzliche Problemverständnis zugrunde, ist das Team in einer besseren Position, um innovative Lösungen zu entwickeln: Sie haben einen reichhaltigen Katalog, der zeigt, wie die Leute mit dem Problem umgehen, und Sie haben ein gemeinsames Vokabular, das funktionierende und reizvolle Lösungen beschreibt.

Dieser Artikel wurde im Original am 10. Juli 2012 unter dem Titel Designing What's Never Been Done Before von Jared M. Spool veröffentlicht. Jared M. Spool gehört zu den führenden Usability-Experten unserer Zeit. Seine Website erreichen Sie unter http://www.uie.com. Weitere Artikel von Jared M. Spool finden Sie im Usability-Special von //SEIBERT/MEDIA.

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