Usability: Der Ritt auf der magischen Rolltreppe des gewonnenen Wissens

Robin hatte das schon dutzendfach gemacht. Bisher dauerte die Geldüberweisung jedes Mal über fünf Minuten, und immer musste sie jemanden von der Bank anrufen, um die Transaktion abzuschließen. In der Annahme, Robin das Leben zu erleichtern, stellte die Bank nun ihre eigene Web-Oberfläche für Online-Überweisungen bereit.

Aus dem Das-Leben-Vereinfachen wurde leider nichts. Robin starrte auf das Formular mit drei Gruppen von Feldern: annehmende Bank, vermittelnde Bank und begünstigte Bank. Sie wusste natürlich, dass sie Bank- und Kontoinformationen in eine dieser Gruppen eingeben musste – aber in welche? Auf dem Bildschirm gab es keinen Hinweis und sie hatte keine Ahnung.

Zunächst zweifelte Robin ein bisschen an sich. Sie hatte doch bereits häufig Überweisungen vorgenommen. Wie schwer konnte das schon sein?

Nach ein paar Minuten Herumprobieren aber wurde sie langsam ärgerlich. Warum verlangte man von ihr, das ohne irgendeine klare Anweisung herauszufinden? Wie sollte das jemand schaffen?

Sie rief einen Freund bei der Bank an – den Mitarbeiter, der die Transfers bisher für sie ausgeführt hatte. Er lüftete das Geheimnis: Sie musste ihre eigenen Bank-Infos im Bereich "annehmende Bank" eingeben und in die Felder "begünstigte Bank" die Daten der Person, die das Geld erhalten sollte. Und was war mit der "vermittelnden Bank"? "Oh, das nutzen wir nicht. Wir haben versucht, sie dazu zu bewegen, diese Felder rauszunehmen, aber sie tun’s nicht."

Die magische Rolltreppe des gewonnenen Wissens

Nutzererlebnisse wie Robins kennt jeder, der mal mit einer komplexen Software umgehen musste, die er nicht verstanden hat. Zur Veranschaulichung können wir ein interessantes Modell einführen: die magische Rolltreppe des gewonnenen Wissens.

Diese magische Rolltreppe repräsentiert all das Wissen, das die Nutzer über ein System haben können. Wenn sie ganz unten stehen, wissen sie sehr wenig über die Anwendung, befinden sie sich ganz oben, wissen sie alles, was es zu wissen gibt.

Die magische Rolltreppe des gewonnenen Wissens

Gegenwärtiges Wissen

Obwohl es nicht ganz zum Bild einer Rolltreppe passt, ist es hilfreich, an zwei interessante Punkte zu denken. Der erste Punkt heißt gegenwärtiges Wissen, und an diesem Punkt besteigt der Nutzer die Rolltreppe. Er repräsentiert alles, was der Nutzer über das System weiß, ehe er es zu nutzen beginnt.

Robin wusste etwas über Geldüberweisungen. Sie wusste, dass sie die Bankleitzahl, den Namen des Empfängers und seine Kontonummer angeben muss.

Das war ihr gegenwärtiger Wissensstand, und damit wusste sie mehr als jemand, der noch nie eine Überweisung getätigt hat. Robin hatte dieses Wissen erworben, lange bevor sie zum ersten Mal mit der Online-Anwendung der Bank zu tun bekam.

Zielwissen

Das Zielwissen ist der andere Punkt auf der magischen Rolltreppe, um den wir uns kümmern müssen. Dieses Wissen braucht der Nutzer, um sein Ziel zu erreichen.

Robin verstand nicht, warum es drei Gruppen mit Feldern gab und was sie zu bedeuten hatten. Das musste sie lernen, um das Geld transferieren zu können.

Ihr Freund bei der Bank wusste mehr über die Feldergruppen. Sein gegenwärtiges Wissen war viel näher am Zielwissen in Sachen Überweisungen durchführen als Robin.

Die Lücke zwischen gegenwärtigem und Zielwissen überbrücken

Beim Überbrücken der Lücke zwischen gegenwärtigem und Zielwissen muss das Entwicklungsteam seine Talente ausspielen. Dafür hat es zwei Möglichkeiten.

Die Anwendung kann das gegenwärtige Wissen des Nutzers näher an das Zielwissen heranbringen. Der Nutzer wird trainiert und erlangt so das Wissen, das er benötigt, um sein Ziel zu erreichen.

Durch Training nähert sich das gegenwärtige Wissen des Nutzers dem Zielwissen an.

Oder das Entwicklungsteam reduziert das Maß an nötigem Wissen, indem sie das Zielwissen näher an das gegenwärtige Wissen heranrückt. Hier geht es um das Vereinfachen der Anwendung.

Wenn wenig Zielwissen nötig ist, haben wir die Anwendung vereinfacht.

Die Frage, die sich das Team freiheraus stellen muss, liegt auf der Hand: Trainieren wir den Nutzer oder reduzieren wir die Notwendigkeit, etwas zu lernen?

Die Online-Banking-Leute hätten eine Anleitung oder andere Schulungsmaterialien zur Verfügung stellen können, um den Nutzern zu erklären, was es mit den verschiedenen Gruppen von Feldern auf sich hat. Robin hätte diese Informationen nutzen können, um zu lernen, wie man mit den Feldern richtig interagiert. Das hätte ihr gegenwärtiges Wissen gesteigert.

Alternativ hätte das Team die Anwendung vereinfachen können. Sie könnten eine Sprache nutzen, die näher an Robins ist. Sie könnten den Prozess in einfache Schritte aufteilen, die zu dem passen, was Robin bis dahin schon wusste, beispielsweise wie man Geld von einem Konto zum anderen bewegt oder wie man mit Paypal umgeht.

Für mehr als einen Nutzer entwickeln

Es ist leicht, eine Anwendung für eine einzelne Person zu entwickeln. (Deshalb ist Self Design so verlockend, denn wir entwickeln nur für uns selbst.) Allerdings wünschen sich die meisten von mehr uns mehr als einen einzigen Nutzer, und hier wird’s kompliziert.

Jeder Nutzer hat einen anderen Gegenwärtiges-Wissen-Punkt, und dieser ist stetig in Bewegung, wenn er die Anwendung nutzt und andere Oberflächen kennenlernt. Außerdem erfordert jede Aufgabe ein anderes Zielwissen. Wie entwickelt man "für alle"?

Hier kommen einmal mehr die zahlreichen Vorteile von Personas und Szenarien ins Spiel. Sie können von einem erfolgreichen Persona-Projekt reden, wenn die Personas das gegenwärtige Wissen der Nutzer verkörpern. Und wenn Sie Funktionen gemäß Ihrer ausgewählten Szenarien entwickeln, können Sie die Zielwissen-Punkte identifizieren.

Die magische Rolltreppe als Kommunikationswerkzeug

Halten wir mithilfe der magischen Rolltreppe des gewonnenen Wissens fest, was wir über die Nutzer und ihre Ziele wissen, hilft uns dies vorauszusehen, wie sie mit komplexen Sachverhalten umgehen. Schauen wir uns die Hauptaufgaben systematisch an und fassen wir akribisch zusammen, was die Nutzer unserer Meinung nach wissen und was nicht, haben wir eine gute Ausgangsposition, um Strategien für leichter zu bedienende Oberflächen zu entwickeln.

Unserer Erfahrung nach ist diese Rolltreppenmetapher eine schöne Möglichkeit, Kollegen und Kunden zu erläutern, warum User Probleme mit unseren Anwendungen haben. Sie ist schnell erklärt und die Leute verstehen das Konzept rasch. Es ist immer gut, ein Werkzeug zur Visualisierung an der Hand zu haben, mit dem man etwas extrem Komplexes in etwas ganz Einfaches übersetzen kann.

Dieser Artikel wurde im Original am 02. November 2011 unter dem Titel The Magic Escalator of Acqired Knowledge von Jared M. Spool veröffentlicht. Jared M. Spool gehört zu den führenden Usability-Experten unserer Zeit. Seine Website erreichen Sie unter http://www.uie.com. Weitere Artikel von Jared M. Spool finden Sie im Usability-Special von //SEIBERT/MEDIA.

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