Die Magie hinter der 2,7-Milliarden-Dollar-Frage von Amazon

Seit seiner Veröffentlichung im Jahr 2007 hat „Harry Potter und die Heiligtümer des Todes“, der letzte Teil der Harry-Potter-Reihe, 3.286 Beurteilungen von Amazon-Kunden erhalten. Während die allgemeine Resonanz auf das Buch überwältigend gut war, haben doch einige Hundert Nutzer den Titel als mittelmäßig oder schlecht bewertet.

Dank eines sehr geschickt ausgetüftelten Features sind die besten positiven und negativen Bewertungen ganz leicht auffindbar. Nach unseren Berechnungen bringt dieses Feature Amazon jährlich 2.700.000.000 Dollar ein. Nicht schlecht für die eigentlich simple Frage „War diese Rezension für Sie hilfreich?“

War diese Rezension für Sie hilfreich?

Das Problem mit der Chronologie

Bei Amazon war es von Anfang an möglich, Artikel zu bewerten, und diese Funktion haben die Kunden von Anfang an gemocht. (Selbst viele Nicht-Kunden berichten, dass sie sich zuerst bei Amazon die Rezensionen anschauen, ehe sie ein Buch woanders kaufen.)

Ursprünglich war das Bewertungssystem rein chronologisch aufgebaut. Mit Hunderten oder Tausenden Einträgen haben die Amazon-Leute offenbar nicht gerechnet.

Interessanterweise schreibt nur ein überschaubarer Teil der Leser Rezensionen. Für „Harry Potter und die Heiligtümer des Todes“ beispielsweise gibt es etwas über 3.000 Bewertungen. Unseren Schätzungen zufolge hat Amazon allerdings mehr als 4 Millionen Exemplare dieses Bandes verkauft. Es haben sich also nur 0,075% der Käufer die Zeit genommen, eine Rezension zu schreiben; einer von 1.300.

Bei relativ wenigen Bewertungen hat das System noch prima funktioniert, ehe es ziemlich schnell unübersichtlich geworden ist. (Ein analoges Beispiel: Stößt jemand auf einen bekannten und stark frequentierten Blog, hat er oft das Gefühl, mitten in eine Diskussion hineinzuplatzen, da nur die allerneuesten Themen auf der ersten Seite präsentiert werden. Manchmal scheint es, als würden Autoren voraussetzen, dass jeder Leser sämtliche Beiträge in ihren Blogs studiert hat.)

Das Amazon-Problem schließlich wurde mit der elften eingestellten Besprechung offensichtlich: Auf der Artikelseite werden jeweils nur zehn Einträge angezeigt, Bewertung Nummer 11 verdrängt die allererste Rezension auf die zweite Seite. Das konnte gutgehen, solange die neueste Bewertung tatsächlich besser war als die bereits existierenden.

Doch dies war jedoch keineswegs immer der Fall. Häufig bezogen (und beziehen) sich neuere Bewertungen auf frühere Rezensionen: Kunden, die Argumente aus den hochqualitativen Bewertungen aufgriffen und wiederholten, verschoben diese damit unglücklicherweise aus dem Blickfeld des Lesers.

Eine redaktionelle Perspektive hinzufügen

Amazon musste also eine Möglichkeit finden, die besten Rezensionen auf der ersten Seite zu positionieren. Die naheliegende Lösung wäre ein redaktionelles Team, das die besten Rezensionen manuell auswählt.

Das hätte für Amazon jedoch exorbitante Mehrkosten verursacht. Amazon beschäftigt bereits ein Team, das die Rezensionen auf Spam und unpassende Inhalte durchforstet. (Unerwünschte Werbung werden Sie in den Rezensionen kaum finden.) Alle Beiträge auch noch zu bewerten und die besten zu sondieren würde den Aufwand in ungeahnte Höhen treiben.

Außerdem stünde dies der Amazon-Philosophie entgegen: Amazon gilt nicht zuletzt als so vertrauenswürdiger Händler, weil sie den Markt selbst entscheiden lassen, was gut und was schlecht ist. Würden Kunden merken, dass Amazon beispielsweise verkaufsfördernde Rezensionen bewusst prominent positioniert, könnte das die Glaubwürdigkeit der Seite massiv beschädigen.

Das Team musste sich also eine elegante Lösung einfallen lassen, die das Problem der nach hinten rutschenden guten Rezensionen löst, ohne Amazon dem Manipulationsverdacht auszusetzen. Warum also nicht – getreu der Amazon-Tradition – einfach den Kunden fragen, was er denkt?

Die Eleganz der Frage

Obwohl die Frage zu den wichtigsten Features der Website gehört, ist die Einführung seinerzeit erstaunlich unauffällig vonstatten gegangen. Eines Tages wurde sie vielen Amazon-Nutzern (aber nicht allen) einfach angezeigt und war nur eine von etlichen Änderungen in jenem Monat. Die meisten User bemerkten die Funktion wochenlang gar nicht und nur wenige verstanden, welche Auswirkungen sie auf den „Wert“ von Rezensionen haben würde. (Es ist nicht einmal klar, ob das Team dies selbst genau wusste, als es das Feature einführte.)

Bis heute werden kaum Anstrengungen unternommen, die Aufmerksamkeit der User gezielt auf die Frage zu lenken. Sie steht eben schlicht und ordentlich zusammen mit den beiden einfachen Buttons „Ja“ und „Nein“ unter jeder Besprechung. Obwohl es sich um eine kritische Funktion handelt, ist es nicht allzu schwer, sie zu übersehen, so dezent und unaufdringlich fügt sie sich in den Beitrag ein.

Der Button „n von n Lesern fanden die folgende Rezension hilfreich“ wird dargestellt, sobald ein Nutzer eine Besprechung bewertet hat. Amazon „benachteiligt“ ein Review jedoch nicht, nur weil dafür noch keine Votes eingegangen sind.

Das Klicken auf „Ja“ oder „Nein“ ist eine elegante Sache. Amazon zeichnet Bewertungsaktivitäten genau auf, jede Person darf nur eine Bewertung pro Rezension abgeben. So wird etwa die Manipulation durch Mehrfachbewertungen oder durch die Bewertung eigener Reviews unterbunden. Nach dem Klick auf „Ja“ oder „Nein“ wird uns schließlich mitgeteilt, dass die Bewertung innerhalb von 24 Stunden in das Ergebnis einfließen wird. (Diese Verzögerung soll ebenfalls Manipulationen verhindern.)

Amazon schiebt die drei hilfreichsten Rezensionen unauffällig nach oben. So wird versucht, ein Gleichgewicht zwischen positiven und negativen Kritiken zu erreichen und dem Käufer ein ausgewogenes Meinungsbild zu präsentieren. Interessant ist auch die dynamische Darstellung. Ist eine Rezension umstritten (und nicht alle finden sie hilfreich), verschlechtert sich ihr Standing und die hilfreichsten Besprechungen hinter ihr rücken nach oben.

Das Ganze ist also ein selbstverwaltendes System, das die Rezensionen, die die Leute am hilfreichsten finden, am Anfang der Liste platziert. Im Endeffekt funktioniert diese unauffällige Umsetzung ganz wunderbar.

Die nachfolgenden Verbesserungen

Seit der Einführung der Hilfreich–Frage hat das Amazon-Team mit vielen Modifikationen gespielt – Einige sind zu Hauptstützen des Systems geworden. Eine der ersten Verbesserungen war die Verwendung von Ajax anstelle des Seiten-Refreshs beim Klick auf einen Hilfreich-Button.

Das Weglassen des Refreshs hat die Wahrscheinlichkeit dramatisch erhöht, dass ein Nutzer mehrere Reviews bewertet.

Um mehr Platz auf der Produktseite zu schaffen, verringerte Amazon zudem die Anzahl der Besprechungen, die dort zunächst angezeigt werden. Sind hilfreiche Rezensionen vorhanden, erscheinen sie getrennt von den Produktinformationen; bei den beliebtesten Artikeln werden eingangs nur die hilfreichsten der hilfreichen Rezensionen dargestellt.

Unlängst hat Amazon dem System noch ein weiteres Feature hinzugefügt und fasst die Fünf-, Vier-, Drei-, Zwei- und Ein-Sterne-Bewertungen zusammen. Lässt sich ein Leser alle Rezensionen anzeigen, stellt die Website zudem automatisch die jeweils hilfreichste positive und negative Kritik mithilfe einer Hervorhebung dar.

Als wir Amazon-Käufern zugeschaut haben ist uns aufgefallen, dass viele Nutzer zunächst nur die negativen Rezensionen ansehen, um sich einen Kauf selbst „auszureden“. Interessanterweise gibt es bei Amazon inzwischen eine Funktion, die genau das ermöglicht: die negativen Bewertungen am Stück anzuzeigen.

Die Möglichkeit, Kritiken nach Sternen anzuzeigen

Die Äbhängigkeit von der Masse

Da die Hilfreich-Frage auf Amazon extrem gut funktioniert, fragen wir uns, inwiefern dieser Erfolg auf andere Seiten übertragbar ist. Amazon hat den klaren Vorteil, dass jeden Tag Millionen von Nutzern vorbeischauen. Dank dieser Masse an Besuchern ist das Feature so wirkungsvoll.

Doch erinnern wir uns: Nur einer von 1.300 Käufern schreibt eine Rezension. Nun ist die Zahl derer, die eine Rezension als hilfreich kennzeichnen, sogar noch geringer. Bei unserem Harry-Potter-Band, dem meistverkauften Produkt in der Geschichte von Amazon, sind das etwa 0,0014% oder einer von 7.300 Käufern des Artikels. Die hilfreiche Rezension kommt gerade einmal auf 566 Votes, obwohl sie bereits am Tag der Veröffentlichung verfasst worden ist. Seitdem hat Amazon das Buch millionenfach an den Mann gebracht.

Dieses Muster ist im Web keine Unbekannte: Die Zahl der Rezensionen, die bewertet werden, folgt einem Verteilungsschlüssel, den wir immer wieder beobachten. Nur einige wenige Rezensionen erhalten eine erhebliche Anzahl von Bewertungen (was noch durch die Tatsache begünstigt wird, dass die sowieso schon häufig bewerteten Reviews so prominent positioniert sind), eine Handvoll Besprechungen werden ein paarmal als hilfreich bewertet, der allergrößte Teil geht leer aus.

Aufgrund dieser Verteilung ist es gut möglich, dass eine solche Hilfreich–Frage auf Websites mit geringerem Traffic nicht häufig genug beantwortet wird, um wirklich nützlich zu sein. Andererseits: Wird wie im Falle Amazons die Angabe „0 von 0 Kunden fanden diese Rezension hilfreich“ vermieden, kann dieses Feature auch keinen Schaden auf Websites mit weniger Traffic anrichten.

Die Macht einer guten Funktion

Im Jahr 2008 hat Amazon 19 Milliarden Dollar eingenommen, davon 70% durch Unterhaltungsmedien wie Bücher, Spielfilme und Musik. Es überrascht nicht, dass bei diesen Produktkategorien auch die Rezensionsmöglichkeit am häufigsten genutzt wird.

Wir haben das Kaufverhalten der Amazon-Kunden sehr genau untersucht und festgestellt, dass die oben beschriebene Darstellung der hilfreichsten Rezensionen den Verkauf um 20% in die Höhe getrieben hat: Einer von fünf Kunden entschließt sich aufgrund dieser Besprechungen dazu, seinen Kauf abzuschließen. Aus diesem Grund kann man mit Fug und Recht behaupten, dass dieses Projekt einen maßgeblichen Anteil an Einnahmen in Höhe von 2,7 Milliarden Dollar hat.

Wir sehen also, dass eine simple Frage – zur richtigen Zeit und auf die richtige Art und Weise gestellt – dramatische Auswirkungen auf den Erfolg eines Unternehmens haben kann. Eine einfach zu bedienende und geschickt umgesetzte Funktionalität entfaltet hier einmal mehr eine großartige magische Kraft (die unter den richtigen Umständen auch sehr lukrativ sein kann).

Dieser Artikel wurde im Original am 17. März 2009 unter dem Titel „The Magic Behind Amazon's 2.7 Billion Dollar Question“ von Jared M. Spool veröffentlicht. Jared M. Spool gehört zu den führenden Usability-Experten unserer Zeit. Seine Website erreichen Sie unter http://www.uie.com. Weitere Artikel von Jared M. Spool finden Sie im Usability-Special von //SEIBERT/MEDIA.

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