Das Big Picture in die tägliche Arbeit am Interaktionsdesign integrieren

Ich glaube, dass Interaktionsdesigner eine Menge von Hänsel und Gretel lernen können, diesem Märchen der Gebrüder Grimm. Es ist eine tolle Geschichte, aber ich bin eher daran interessiert, wie sie erzählt wird.

Hier ist ein kleines Experiment, um zu erklären, was ich meine: Geben Sie bei Ihrem nächsten Design-Meeting allen ein Blatt Papier und bitten Sie sie, stichpunktartig die Hänsel-und-Gretel-Geschichte aufzuschreiben. Wenn Sie die Stichpunkte dann vergleichen, werden Sie von einer Person zur nächsten viele Konsistenzen feststellen, obwohl die Leute sich nicht untereinander abgestimmt haben.

Was würde nun passieren, wenn Sie das Team bitten würden, das Gesamtnutzererlebnis zu beschreiben, auf das das Projekt hinausläuft? Würde jedes Teammitglied dieselbe Story über die Nutzung des künftigen Interaktionsdesigns notieren?

Meiner Erfahrung nach können die meisten Teams das Big Picture dessen, woran sie da arbeiten, nicht so gut beschreiben wie das Märchen, an das sie seit Jahren nicht gedacht haben. Wenn sie es nicht beschreiben können, wie sollen sie es dann entwickeln?

Selbst wenn ein Interaktionsdesigner das große Ganze mit Worten beschreiben kann, erzählt der Rest des Teams selten dieselbe Geschichte. Wenn sie nicht gemeinsam am Big Picture arbeiten, wie sollen sie dann etwas produzieren, das nahtlos zusammenarbeitet?

Es ist eine schwierige Spannungssituation zwischen den kleinteiligen Arbeiten im Tagesgeschäft und der Gesamtstrategie, die man im Auge behalten muss. Es geht um mehr als nur darum, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen. Es ist der Versuch, den Wald zu sehen, während Sie mitten in ihm stehen und Blätter an Äste kleben. Oft arbeiten wir auf so tiefen Ebenen, dass es eine Herausforderung ist, die höheren im Auge zu behalten.

Aus Szenarien eine Story bauen

Zurück zu Hänsel und Gretel. Hier hilft uns unser Wissen über die Geschichte, die ganze Sache zusammenzuhalten. Wir können uns den Moment ansehen, an dem die Kinder zum Pfefferkuchenhaus kommen, und verstehen seinen Platz im Ablauf. Wir wissen, dass sie stundenlang umhergeirrt sind und ihnen der Magen knurrt. Da trifft es sich gut, dass sie soeben ein vorzüglich schmeckendes Domizil entdeckt haben. Dem talentierten Bäcker bzw. Erbauer des Hauses mit seinen gruseligen Vorlieben sind sie bis jetzt noch nicht begegnet. Wir wissen, was vorher war und was anschließend kommt.

Szenarien sind ein tolles Werkzeug, um die gesamte Geschichte unseres Interaktionsdesigns zusammenzuhalten. Wir können eine Reihe von Szenarien erstellen, die, wenn sie zusammengesetzt werden, beschreiben, wie die Nutzer vom ersten bis zum letzten Augenblick mit unserem Interaktionsdesign arbeiten.

Es ist nicht überraschend, dass Szenarien naturgemäß auf diese Art funktionieren. Sie kommen direkt vom Geschichtenerzählen. Normalerweise nutzen wir sie als separate Teile, die uns jeweils helfen, uns auf bestimmte Funktionen oder Features zu fokussieren. Wenn wir sie zusammensetzen, erleben wir dann aber, wie ein ganzheitliches Nutzererlebnis aus ihnen hervorgeht.

Jedes Meeting mit einer Geschichte beginnen

Die schiere Wiederholung ist ein Grund, warum viele von uns mit der Geschichte von Hänsel und Gretel so gut vertraut sind. Während unserer Kindheit haben wir das Märchen immer wieder gehört. Und obwohl sie jedes Mal ein klein wenig anders erzählt wurde, etwa mit unterschiedlicher Betonung bei verschiedenen Abschnitten, haben wir die wesentliche Prämisse mit der Zeit gelernt.

In den meisten Projekten gibt es kein Äquivalent zu dieser Wiederholung. Am Anfang reden wir über die grundsätzlichen Ziele und Anforderungen, um uns dann direkt in die Details zu stürzen, die Geschichte hinter uns lassend.

Wir haben ein Team getroffen, dass frühe Mockups des Interaktionsdesigns im Meetingraum aufgehängt hat. Die Gesamtgeschichte können sie durchspielen, wenn sie die Mockups im richtigen Moment nutzen. Wie wir gesehen haben, tun sie das ziemlich häufig, um zu sehen, wie alles zusammenpasst, und um fehlende Schlüsselelemente zu identifizieren. Dabei hört jedes Teammitglied die Geschichte ein weiteres Mal.

Ein anderes Team hat das Poster aufgehängt, das auf einer langen Zeitlinie die Reise des Users durch das Nutzererlebnis darstellt und das sie in einem Workshop zu Projektbeginn ausgearbeitet haben. Wenn sie sich zusammensetzen, um über einen spezifischen Aspekt des Interaktionsdesigns zu sprechen, beginnen sie, indem sie die Diskussion innerhalb der Zeitlinie platzieren. Jedes Mal gehen sie dabei die gesamte Zeitlinie durch, damit alle genau wissen, wo man gerade ist, was davor kam und was anschließend kommt.

Geschichten mit realen Details funktionieren am besten

Auch wenn das Märchen ganz klar fiktiv ist, hallen die Elemente der Hänsel-und-Gretel-Geschichte nach, weil sie so real sind. Es ist nicht schwer, sich einen dunklen und furchteinflößenden Wald vorzustellen oder ein Pfefferkuchenhaus, das gut genug aussieht, um es zu essen (auch wenn es sich wahrscheinlich nicht ganz so toll darin wohnt).

Wir können Geschichten real machen, indem wir Details aus unserer Nutzerforschung integrieren. Diese Details funktionieren am besten, wenn alle im Team an diesem Prozess beteiligt waren. Viele Teams nutzen echte Daten, die sie gesammelt haben, als sie zu Besuch bei ihren Nutzern und Kunden waren. Sie arbeiten mit echten Namen und echten Bedürfnissen.

Ein Team, das an einem System für das Reporting kritischer Vorfälle bei Medikamententests arbeitete, nutzte aktuelle Berichte, die im Rahmen der Nutzerforschung gesammelt worden waren. Die reichhaltigen Details dieser Kundenberichte haben eine erhebliche Dosis Realitätsnähe in den Weiterentwicklungsprozess gebracht. Zu wissen, wie diese Berichte in das Leben der Nutzer passen, half ihnen, das Gesamtbild im Auge zu behalten.

Die Story aufmalen

Es ist schwer, von Hänsel und Gretel zu reden, ohne dass das Bild zweier Kinder vor unserem geistigen Auge aufpoppt, die im Wald über ein Haus aus Naschwerk stolpern. Dieses geistige Bild hilft uns, uns an die Geschichte zu erinnern, wenn wir sie wiedergeben.

Wir sind einem Team begegnet, das regelmäßig Design-Studio-Workshops durchführt, um solche Bilder des Nutzererlebnisses zu entwickeln. Doch statt prototypische Bildschirme oder Dialogboxen zu zeichnen, skizzieren Sie, was der Nutzer erlebt, während er mit dem Ergebnis interagiert. Dann vergleichen sie ihre Zeichnungen mit denen der Kollegen, um anschließend die nächste Runde zu starten und die Ideen einzuarbeiten, die sie bei anderen gesehen haben.

Wenn wir etwas skizzieren, stärken wir die geistigen Bilder. So zementieren wir die Geschichte in unserem Kopf. Kommen wir regelmäßig auf das Big Picture zurück und zeichnen mit allem, was wir inzwischen erfahren haben, eine neue Version der Geschichte, hilft uns das zu verstehen, wie sich unser Denken verändert.

Prototypen als evolutionäre “Plugins”

Neulich habe ich in einer Dokumentation gesehen, wie der Design-Prozess bei Pixar abläuft. Sie fangen mit groben Skizzen der Story an, die sie in ein einfaches Video packen. Die Stimmen sprechen der Regisseur und der Autor ein. Wenn der Film voranschreitet, werden Teile des Videos durch feinere Grafik, die Stimmen echter Schauspieler und andere Elemente ersetzt, die es realer machen.

Während unseres Entwicklungsprozesses erstellen auch wir eine ganze Reihe Prototypen. In den Anfangstagen sind das nur Skizzen und einfache Renderungen. Im Projektverlauf werden sie verfeinert. Dem fertigen Endergebnis nähern wir uns dabei Schritt um Schritt.

Es ist ganz einfach, ein Video davon zu machen, wie ein Nutzer mit diesen Prototypen umgehen würde. Die Technologie haben die meisten von uns in der Hosentasche und mit ihr können wir schnell Walkthroughs durch unser Interaktionsdesign realisieren. Je weiter wir voranschreiten, desto mehr besser ausgearbeitete und realere Stücke können wir in den Mix einsetzen.

Das Ansehen und Schneiden eines sich auf diese Art entwickelnden Videos der Prototypen kann uns helfen, die Geschichte zu erzählen. Gehen wir die Szenarien durch, während wir uns von der Story führen lassen (statt die Features einfach zu beschreiben), rufen wir uns immer wieder ins Gedächtnis, was wir da umzusetzen versuchen.

Den Blick aufs Big Picture zur Gewohnheit machen

Wenn wir in Diskussionen über das Interaktionsdesign kontinuierlich das Big Picture heranziehen, kommen wir schneller zu einem kohärenten Ergebnis als Teams, die keine Vorstellung davon haben, wie alles zusammenpasst. Es ist nicht schwierig, Wege zu finden, um allen jederzeit klarzumachen, wo in der Geschichte wir uns befinden, aber man muss sie auch ständig zum Thema machen. Und woran werden Sie merken, dass Ihr Ansatz erfolgreich ist? Wenn es irgendwann zur Gewohnheit geworden ist, darüber zu diskutieren, wo im Wald Sie gerade sind.

Dieser Artikel wurde im Original am 20. Juni 2012 unter dem Titel Injecting the Big Picture into Daily Design Practice von Jared M. Spool veröffentlicht. Jared M. Spool gehört zu den führenden Usability-Experten unserer Zeit. Seine Website erreichen Sie unter http://www.uie.com. Weitere Artikel von Jared M. Spool finden Sie im Usability-Special von //SEIBERT/MEDIA.

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