Wann wird etwas als innovativ wahrgenommen?

Usability_Tag_CloudVor ein paar Jahren hat Apple wie so viele Male davor die Karten neu gemischt – mit einer Innovation. In ihrer Genius Bar mussten sich die Kunden nicht mehr anstellen, um Kundenservice zu erhalten. Stattdessen konnten sie einen Termin für eine bestimmte Uhrzeit vereinbaren, dann brauchten sie nur noch hinzugehen und bekamen die Hilfe, die sie benötigten.

Damit waren sie die ersten im Elektronik-Einzelhandel. Aus Geschäften wie (dem heute nicht mehr bestehenden) Circuit City und Best Buy kannten die Kunden nur das Ritual, sich in Schlangen anzustellen (manchmal sehr lange Schlangen) und zu warten, bis sie bei einem Angestellten an der Reihe waren.

Alle gingen davon aus, dass der alte Weg mit langen Schlangen eben die Art und Weise ist, wie so etwas funktioniert. Sie bauten ihre Geschäfte so, dass es extra dafür vorgesehenen Platz gab, um lange Schlangen auch in geschäftigen Zeiten zu handhaben, etwa nach den Ferien. Apples neuer Ansatz bedeutete, dass die Architekten diesen Platz nicht mehr für wartende Leute einplanen mussten; stattdessen konnte er anders genutzt werden, beispielsweise für Produkt-Displays.

Die Sache ist die: Apple hat das Vereinbaren von Terminen nicht erfunden. Doch ihr Ansatz, diese Herangehensweise auf den Kundenservice zu übertragen, schien komplett innovativ.

Warum war das so? Wenn wir innovative Produkte und Dienstleistungen produzieren wollen, können wir aus dem, was Apple gemacht hat, ein paar Lektionen lernen.

Innovationen hängen mit Evolution zusammen

In einer Schlange zu stehen, nervt. Es gibt so viele bessere Dinge, die wir mit unserer Zeit anstellen könnten. Aber wenn wir aus der Schlange treten, verlieren wir unsere Chance auf den Service, den wir haben wollen. Am liebsten hätten wir das Ergebnis ohne das Warten.

Vor Jahren kam irgendwo irgendein Laden (vielleicht ein Delikatessengeschäft) auf eine Idee. Statt die Leute in der Schlange warten zu lassen, gaben sie Nummern aus. War die Bedienung mit einem Kunden fertig, rief sie die nächste Nummer auf. Kunden mussten nicht mehr in der Schlange ausharren. Sie konnten immerhin herumlaufen.

Weit weg gehen konnten sie allerdings nicht. Wenn sie den Aufruf ihrer Nummer verpassen würden, wäre der Versuch, trotzdem schnell dranzukommen, ziemlich peinlich. Nummern sind nur eine Stufe über dem Schlange-Stehen und nur ein bisschen weniger frustrierend.

Die ersten Arztpraxen funktionierten auf dieselbe Weise. Zum Doktor? Dann geht man in die Klinik und stellt sich an. Man kann zum Arzt rein, wenn man an der Reihe ist. Je beliebter der Arzt, desto länger die Wartezeit, ehe man dran kommt. Vielleicht wartet man den ganzen Tag.

Die Erfindung des Telefons gab Patienten dann die Möglichkeit, vorher anzurufen und eine Zeit auszumachen, um den Arzt zu sprechen. Nun konnte der Patient zu einer bestimmten Zeit kommen (und hoffen, dass der Doktor nicht hinter den Terminen hinterherhinkte). Der Arzt wiederum konnte Platz für riesige Wartezimmer sparen uns dafür sein Sprechzimmer vergrößern und besser ausstatten.

Anders als Arztpraxen hatten Kundenservice-Center diese Evolutionsstufe noch nicht erreicht. Apple machte den logischen Sprung vor den anderen, und zwar nur deshalb, weil andere Händler es nicht als Problem angesehen hatten, das es zu lösen galt. Also haben sie sich Apple darum kümmern lassen. Sie sahen keine Notwendigkeit zur Evolution.

Innovation findet man am Ort der tiefsten Frustration

Apple hat sich die Terminabsprache nicht ausgedacht und sie waren nicht die ersten Einzelhändler, die sie im Kontext des Kundenservice' nutzten. Die Schneidereien einiger High-End-Bekleidungsgeschäfte kannten Terminvereinbarungen seit Jahren.

Vor über einem Jahrzehnt installierte Disney einen ähnlichen Terminvereinbarungsmechanismus in ihren Themenparks, um Schlangen vor den Attraktionen zu verkürzen. Parkgäste können einen Termin für ein spezifisches Fahrgeschäft wie den Tower of Terror abstimmen; sie vermeiden das Warten und können sich derweil an anderen Aspekten des Parks erfreuen.

Southwest Airlines reduzierte das Durcheinander beim Boarding eines Flugzeugs, indem jeder einen festen Platz in der Reihe bekam. Genau wie Disney mit seinen Terminen, erleichtert Southwest es den Leuten zu wissen, wann sie dran sind.

Eine modifizierte Implementierung der Verabredung ist auch das Herz des City-Ride-Konzepts von Uber. Statt in Schlangen am Taxistand zu warten, fragen Uber-Fahrgäste nach einem verfügbaren Wagen, indem sie einen Button auf ihrem Smartphone drücken, und treffen direkt eine Verabredung. Das GPS des Telefons sagt dem Fahrer, wo der Passagier wartet, und schickt ihn direkt dorthin.

Apple, Disney, Southwest und Uber borgten sich das Prinzip der Verabredung, um der Frustrationsquelle zu begegnen, mit der sich all ihre Kunden konfrontiert sahen: das Warten in langen Schlangen. Warten ist für Kunden zutiefst frustrierend, weil es reine Zeitverschwendung ist.

Durch die Fokussierung auf tiefe Frustration fühlt sich der Wechsel zu Terminabsprachen wie ein riesiger Fortschritt an. Hätte sich Apple auf die Verbesserung von etwas fokussiert, das Kunden nicht so dermaßen frustriert, wären sie wahrscheinlich auch nicht als so innovativ wahrgenommen worden. Damit etwas als innovativ wahrgenommen wird, muss eine tiefgreifende Lösung dahinterstecken.

Innovation entsteht aus Lücken im Nutzererlebnis

Die Tool Time eignet sich prima dazu, nach tiefer Frustration zu suchen. Bei einem Nutzererlebnis setzt sich die Tool Time aus allen kumulierten Momenten zusammen, in denen der User mit Systemanforderungen kämpft, die nichts zum Erreichen seiner Ziele beitragen.

Die Kernherausforderung des Kundenservice' im Geschäft und der Attraktionen im Themenpark ist die, dass das Schlange-Stehen den Kunden oder Parkgästen nicht dabei hilft, sich ihrer Zeit zu erfreuen. Sie mögen es als notwendiges Übel ansehen und es tolerieren, aber es macht sie nicht glücklicher. Das Anbieten einer Alternative dagegen schon.

Da Kunden denken, herumzustehen und zu warten wären notwendige Übel ohne Alternativen, beschweren sie sich oft nicht darüber. Organisationen, die sich auf die spezifischen Aktivitäten konzentrieren, mit denen Nutzer versuchen, ihre angenommenen Ziele zu erreichen, können die tiefe Frustration übersehen, die in der Tool Time entsteht, in den Lücken zwischen diesen Aktivitäten also.

Teams, die das gesamte Nutzererlebnis untersuchen, schauen in diesen Lücken hinein, um zu sehen, woher die Frustration kommt. Geht man diese Frustrationsquellen an, während andere es noch nicht getan haben, wird man von den Kunden als innovativ eingeschätzt.

Das Versprechen erfüllen

Apples Verabredungen sind nur dann erfreulich, wenn die Angestellten das gegebene Versprechen auch einhalten. Macht ein Apple-Kunde einen Termin aus, nur um dann doch im Laden zu warten, verliert die Innovation ihren magischen Touch.

Das Unternehmen muss also gut darauf achten, dass es seine Versprechen hält. Apple musste Ressourcenmanagementsysteme in die Terminplanung integrieren, um zu vermeiden, dass zu viele Kunden für einen gegebenen Slot eingeplant werden. Die Filialleiter brauchten Tools, um mit Absagen, abwesenden Service-Mitarbeitern und Kunden umgehen zu können, die mit einem Notfall hereinkommen und nicht auf einen späteren Termin warten können.

Das Backend-System für etwas so Einfaches wie das Abstimmen von Terminen kann sehr komplex werden. Versteckt man diese Komplexität, während man gleichzeitig seine Versprechen hält, verleiht man dem Terminsystem diese innovative Wirkung.

Keine Innovation vor ihrer Zeit

Zehn Jahre vor der Eröffnung des ersten Apple-Stores erzielten die Geschäfte von Best Buy einen Umsatz von einer Milliarde. Auch die Best-Buy-Leute hätten versuchen können, eine Lösung zu finden, die den Leuten das Schlange-Stehen erspart.

1991 war die Technologielandschaft jedoch eine andere als 2001. Es gab kein Internet und keine webbasierten Anwendungen, um darauf einen Kalender zu bauen. Mainframe-Datenbanksysteme, um eine Anwendungen dieser Größenordnung zu betreiben, waren langsam und schwer zu bedienen. Der Betrieb des Kundenservice-Centers zur Verwaltung all der Terminvereinbarungsanrufe hätte Millionen am Tag gekostet.

Der Apple-Store öffnete zur richtigen Zeit in der Technologiehistorie. Als sich die ersten Läden etablierten, stand eine neue Bandbreite an Technologie zur Verfügung, die es einfach machte, ein solches Terminvereinbarungssystem zu bauen.

Der Apple-Store hatte der Vorteil, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Ihr Konzept wirkt intuitiv, weil sie neue Plattformen und Technologien nutzen konnten, um darauf basierend ihre "einfache Idee" umzusetzen.

Wann wird etwas als innovativ wahrgenommen?

Wer hätte gedacht, dass Innovationen sich um etwas so Simples drehen können wie um Leute, die in einem Laden, an einem Taxistand oder am Flugzeugschalter in der Schlange stehen. Erst wenn Unternehmen genau hinsehen, was mit ihren Kunden passiert, ergeben sich Möglichkeiten, die herrlichsten Erlebnisse zu verwirklichen.

Das Rezept, um die Wirkung des Innovativen zu erzielen, braucht nur die richtigen Zutaten. Nehmen Sie etwas, das Ihre Nutzer zutiefst frustriert. Dann schauen Sie in die Lücken zwischen den Aktivitäten. Zum Schluss bauen Sie das System so, dass sichergestellt ist, dass Sie Ihr Versprechen einhalten. Wenn Sie damit fertig sind, haben Sie etwas, das das Denken einer ganzen Branche dahingehend verändern könnte, was User und Kunden glücklich macht.

Dieser Artikel wurde im Original am 12. Juni 2013 unter dem Titel What Makes an Experience Seem Innovative? von Jared M. Spool veröffentlicht. Jared M. Spool gehört zu den führenden Usability-Experten unserer Zeit. Seine Website erreichen Sie unter http://www.uie.com. Weitere Artikel von Jared M. Spool finden Sie im Usability-Special von //SEIBERT/MEDIA.

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