Überzeugt von selbstorganisierten Teams

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Dieser Artikel ist am 18. Dezember 2015 ursprünglich auf Harvard Business Manager erschienen.

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Als wir im Jahr 1996 begannen, Internet-Seiten professionell zu bauen, ging das noch sehr intuitiv vonstatten - Projektpläne und akribische Planungen waren uns noch fern. Das Geschäft entwickelte sich, wir wuchsen und kamen schnell an den Punkt, professionellere Vorgehensweisen zur Abwicklung unserer Projekte zu suchen. Wir probierten einiges aus - von Gantt-Charts mit MS Project bis zu selbst entwickelten Projektchecklisten, aber nichts hatte den erhofften durchschlagenden Erfolg. Zwischenzeitlich konnte jeder Projektmanager selbst entscheiden, wie er seine Projekte abwickeln wollte.

2008 stießen wir dann endlich auf die Methoden Scrum und Kanban. Wir setzten ein Pilotteam auf, das streng nach den (wenigen) Vorgaben des offiziellen Scrum-Guides arbeitete und ein eigenes Produkt nach unseren Vorgaben entwickeln sollte. Während dieses Pilotteam noch von unseren anderen Software-Entwicklungsteams belächelt wurde ("Das könnt ihr euch ja nur erlauben, weil ihr an einem internen Projekt ohne Kundendruck arbeitet"), begannen wir, mit unseren Mitarbeitern außerhalb der Software-Entwicklung über ihre Arbeitsweisen zu sprechen. Wir führten dort sukzessive Taskboards und Stand-up-Meetings ein, was schnell erste Erfolge nach sich zog. Wir stellten fest, dass uns diese Art der Arbeit sehr lag und sich gut anfühlte. Als dann auch das Pilotteam erste Erfolge bei Kundenprojekten feierte, kamen nach und nach die anderen Entwicklungsteams und sagten: "Das wollen wir jetzt auch mal ausprobieren." Seitdem sind Scrum und Kanban bei uns etablierte Standards. Bisher konnten wir damit jedes Projekt erfolgreich zu Ende bringen.

Heute ist mir klar, dass die konsequente Umsetzung von Scrum zwangsläufig dazu führte, dass sich unser Unternehmen ebenfalls verändern musste. Das Vorgehen nach Scrum beinhaltet eine Retrospektive, die unsere Teams alle zwei Wochen reflektieren lässt, was sie behindert und wie sie sich verbessern können. Dieses Nachdenken führte schnell dazu, dass die einzelnen Teams die Sinnhaftigkeit unternehmensweiter Prozesse infrage stellten. Denn der organisatorische Rahmen, den //SEIBERT/MEDIA den Teams bot, war nicht optimal auf diese Art der Arbeit ausgelegt. Ein Beispiel dafür war unsere zentrale Urlaubsfreigabe. Eine bestimmte Person aus einem Bereich entschied darüber, ob ein Mitarbeiter in den Urlaub gehen durfte, ohne jedoch zu wissen, was gerade in den Teams passierte. So entstand relativ schnell der Bedarf, unternehmensweite Prozesse an die Bedürfnisse selbstorganisierter Teams anzupassen.

An dieser Stelle empfand ich es als konsequent, diese notwendige Veränderung gemeinsam mit den betroffenen Mitarbeitern zu erarbeiten. Das war die Geburt dessen, was wir heute unseren "Agile Organisation"-Prozess nennen. Unser Anliegen ist es, gemeinsam mit der Belegschaft den organisatorischen Rahmen so weiterzuentwickeln, dass er optimale Bedingungen für unsere autonom agierenden Teams bietet. In diesem Prozess haben wir gemeinsam schon einiges erreicht. Beispiele dafür sind die Abschaffung der individuellen Zielvereinbarungen, die Einführung von Mentorenteams für jeden Mitarbeiter statt klassischer Vorgesetzter, die Angleichung und Anhebung der Urlaubstage für alle und das gemeinsame Erarbeiten einer uns alle verbindenden und von allen getragenen Vision.

Wenn wir über die Auswirkungen von Scrum sprechen, dann muss auch noch auf folgenden Punkt eingegangen werden: Scrum ist kein reines Projektmanagement-Werkzeug, sondern es beinhaltet auch ein neues Werte-Set, das für mich die Sicht auf die Zusammenarbeit im Ganzen verändert hat. Als Scrum-Werte werden dabei die folgenden beschrieben: Commitment (ein Entwicklungsteam bekennt sich dazu, ein funktionierendes Produkt mit der vereinbarten Menge an Funktionen abzuliefern), Fokus (Konzentration auf die gerade wichtigen Dinge), Offenheit (Transparenz gegenüber dem Kunden), Respekt (gegenseitige Beziehungen auf Augenhöhe) und Mut (Dinge auszuprobieren und aus Fehlern zu lernen).

Zwei der genannten Werte empfinden wir bei //SEIBERT/MEDIA als besonders wichtig, nämlich Transparenz und Offenheit. Wir setzen schon seit langem auf die vollständig offene Verfügbarkeit von Informationen in unserem Unternehmenswiki und diskutieren in einem internen Microblog aktuelle Dinge offen miteinander.

Ich bin überzeugt von selbstorganisierten Teams. Für mich ist das einer der Erfolgsfaktoren, die dafür sorgen, dass das Unternehmen nicht als unbeweglicher Koloss dasteht, sondern die Schwarmintelligenz aller Mitarbeiter nutzt, um Produkte und Dienstleistungen stets gemäß der Anforderungen des Marktes weiterzuentwickeln. Der Internet-Markt ist ein dynamisches Umfeld, dessen künftige Entwicklung keiner vorherzusagen vermag. Daher ist es die Grundvoraussetzung für Internet-Unternehmen, sich in diesem Umfeld anpassungs- und veränderungsbereit - eben agil - zu zeigen. Und dafür bedarf es der geballten Kompetenz der gesamten Belegschaft und einer agilen Organisation.

Doch wie etabliert man Selbstorganisation?

Das ist eine Frage, die sich klassischerweise das Management stellt. Wir hatten das Glück, dass wir als relativ junges Unternehmen schon immer flache Hierarchien gepredigt und gelebt haben. Es gab nie ein tief verästeltes Organigramm, bei dem viele Manager um ihre Positionen und ihren Einfluss fürchten mussten. Trotzdem mussten auch mein Bruder und ich als Geschäftsführer von //SEIBERT/MEDIA uns Gedanken über den Führungsstil machen. Denn sich einfach nur zurückzuziehen ("Ihr macht das schon!"), wirkt nicht. Während autoritäre Führung Selbstorganisation erst gar nicht aufkommen lässt, sorgt eine Laissez-faire-Haltung dafür, dass Mitarbeiter verunsichert sind und sich nicht trauen, Entscheidungen selbst zu treffen. Es gab bei uns Situationen, in denen Mitarbeiter nach Hilfe gefragt, wir ihnen aber die Entscheidung überlassen haben. Die bessere Antwort wäre gewesen: "Wie kann ich dir helfen, damit du die Entscheidung selbst treffen kannst?" Oder noch einfacher: "Was brauchst du?"

Unser Weg ist die kooperative Führung. Trotzdem wird es noch Entscheidungen geben, die ich treffen will oder vielleicht sogar muss. Wenn den Mitarbeitern das nicht klar ist und sie nun "einfach machen", können sie sich bildlich gesprochen an einem unsichtbaren elektrischen Zaun einen Schlag holen. Das ist Gift für die Selbstorganisation. Passiert das, werden sie das nächste Mal sicher nicht mehr selbst entscheiden und einen Rüffel riskieren. An dieser Stelle hat uns das sogenannte Delegation Board von Berater Jurgen Appelo geholfen, diese Punkte sichtbar zu machen und so den Mitarbeitern die Leitplanken für ihr Handeln aufzuzeigen. Was mache ich allein, was teile ich mit, wo entscheiden wir gemeinsam, wo fragen mich andere und was muss ich einfach hinnehmen? Das beschreibt das Delegation Board für die für uns relevanten Entscheidungsbereiche.

Die Volatilität des Internet-Geschäfts erleben wir mit //SEIBERT/MEDIA heute sehr intensiv. Wo wir früher als Internet-Dienstleister mit Rundum-sorglos-Dienstleistungen mit Zufriedenheitsgarantie geworben haben, müssen wir heute für spezielle Anwendungsbereiche eine Expertenposition erarbeiten und Lösungen anbieten, die die Bedürfnisse des Kunden treffen. Bei uns sind das zum Beispiel Intranets, Wiki- und Aufgabenmanagementsysteme und agile Software-Entwicklung. Das bedeutet aber auch, dass ich damit beginnen muss, den Markt besser zu verstehen, um dann das Unternehmen entsprechend aufzustellen. Dabei hat uns das von Vordenker und Autor Niels Pfläging propagierte Pfirsich-Modell sehr geholfen. Wir stellen nun unseren Teams dazu die passenden Fragen: Welche Lösung bietet ihr dem Markt? Welche Unterstützung braucht ihr dazu? Und das gilt für alle Mitarbeiter im Unternehmen, denn der Kern des Pfirsichs sind die internen Teams wie Buchhaltung und Marketing, die die Teams am Markt als ihre Kunden verstehen müssen.

Bei dieser Diskussion haben wir festgestellt, dass wir eine gemeinsame Vision benötigen: Warum gibt es //SEIBERT/MEDIA? Wie wollen wir die Welt verbessern? Wo wir vormals einfach "alles gemacht haben, was der Kunde will", haben uns die Antworten auf diese Fragen geholfen, einen inhaltlichen Fokus zu setzen und unsere Lösungen für den Markt entsprechend zu gestalten.

"Das klingt ja wie im Paradies", hörte ich mal einen Zuhörer auf einer Konferenz nach unserem Vortrag über unsere agile Organisation sagen. Tatsächlich ist das Arbeiten bei //SEIBERT/MEDIA im Alltag nicht immer einfach und teilweise alles andere als paradiesisch. Natürlich ist uns wichtig, dass sich die Mitarbeiter bei uns wohlfühlen. Gleichzeitig führt unsere Art der Unternehmensführung aber auch dazu, dass jeder Konflikt zwangsläufig ans Tageslicht kommt, gemeinsam diskutiert werden will und wir daraus einen Verbesserungsvorschlag erarbeiten müssen. Ich bin überzeugt davon, dass diese Konflikte in anderen Unternehmen ebenfalls existieren, dort aber einfach durch autoritäre Führung und fehlende Transparenz nicht so stark ans Tageslicht kommen.

Ich sehe diese Arbeit als Investition in unsere Unternehmenskultur und das gemeinsame Wir. Ich glaube, dass sich das in jedem Fall langfristig auszahlen wird und dass uns die ständige Verbesserung zu einem robusteren Unternehmen macht, das sich im komplexen Umfeld hoffentlich noch lange behaupten kann.

Weiterführende Infos:
Mit Scrum zur agilen Organisation – Aufzeichnung unseres Vortrags auf den XP Days 2014
Agile Organisation bei //SEIBERT/MEDIA: Grundlagen und Intention
Agile Organisation bei //SEIBERT/MEDIA – von der Ideenfindung zur Realisierung

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