Lean Startup: Die Kunst des Wissenschaftlers (Teil 2)

Zwischen der naturwissenschaftlichen Methodik und der Entwicklung eines funktionierenden Geschäftsmodells gibt es diverse Schnittpunkte, die für Entrepreneure von großer Bedeutung sind, wie Lean-Startup-Experte Ash Maurya bereits im ersten Teil dieses Artikels erläutert hat. Dieser zweite Teil knüpft direkt an diese Überlegungen an.  

Vermutungen können nur widerlegt werden

Ein weiteres Schlüsselkonzept aus der wissenschaftlichen Methodik besteht darin, dass Vermutungen oder Theorien niemals bewiesen werden können – nur widerlegt. Viele Leute verstehen das nicht. Sie denken, dass es in der Wissenschaft darum geht, Experimente durchzuführen, um unsere Vermutungen zu validieren. Aber wir können niemals genug Experimente durchführen, um eine Vermutung komplett zu validieren. Es braucht nur ein einziges Experiment, das unserer Vermutung widerspricht, um sie komplett zu widerlegen. Mit anderen Worten: Es ist möglich, eine Vermutung zu formulieren, ein Modell zu entwickeln und Experimente durchzuführen, um dieses Modell zu validieren. Doch mit der Zeit führen wir vielleicht eine größere Bandbreite von Experimenten durch und sammeln zusätzliche Beobachtungen, die nicht mehr mit unserer Theorie übereinstimmen, womit sie sich als falsch herausstellt.

Das ist Newtons Gesetz der Planetenbewegung widerfahren. Er vermutete ein Gesetz der Gravitation und berechnete die Konsequenzen für das Sonnensystem, und seine Vorhersagen stimmten über mehrere hundert Jahre hinweg mit Experimenten überein, bis bei der Bewegung des Merkur eine kleine Anomalie entdeckt wurde. Während all dieser Zeit wurde die Theorie nicht bewiesen, aber weil sie nicht widerlegt wurde, sah man sie vorübergehend als richtig an.

Darum ist echte Wissenschaft schwierig. Die gute Nachricht ist, dass Entrepreneurship weniger schwierig ist. Entrepreneure suchen nicht nach endgültigen, sondern nach temporären Wahrheiten. Unsere Aufgabe ist es, diese Vermutungen in eine Strategie zu überführen, die unser Geschäftsmodell für einige Zeit zum Laufen bringt. Diese Strategien sollen temporär validiert werden und nur dann, wenn sie das Ziel des Geschäftsmodells voranbringen. Weiterhin erreichen alle Wachstumsstrategien schließlich ein Stadium der Sättigung und müssen durch neue Strategien ersetzt werden.

Selbst innerhalb der Flugbahn unseres derzeitigen Geschäftsmodells können vormals validierte Vermutungen angesichts kontinuierlicher Innovation rasch in Frage stehen.

Wenn wir nicht permanent versuchen, uns selbst zu stören, also unser Geschäftsmodell zu widerlegen, wird jemand anderes es tun.

Durchbrüche resultieren aus falschen Vermutungen

Können Sie ein gemeinsames Motiv bei diesen Entdeckungen erkennen: Penicillin, Mikrowellen, Röntgenstrahlung, Schießpulver, Plastik und vulkanisierter Gummi?

Ja, all diese Dinge wurden zufällig entdeckt. Aber weil es Zufall war, ist es leicht, sie als Glücksfälle abzutun. Allerdings war dabei mehr als Glück im Spiel. All diese Entdeckungen begannen als fehlgeschlagene Experimente.

In all diesen Fällen suchten die Erfinder nach einem spezifischen Ergebnis und erhielten dabei ein anderes Resultat. Doch statt ihre "fehlgeschlagenen" Experimente wegzuwerfen, taten sie etwas, was sie von den meisten Leuten unterscheidet: Sie fragten nach dem Warum.

Innovationsexperimente sind da nicht anders. Beim Erzielen von Durchbrüchen geht es weniger um Glück und mehr um eine rigorose Suche. Der Grund, warum die Hockeyschläger-Flugbahn am Anfang so lange nicht ansteigt, ist nicht der, dass Gründer faul sind und nicht hart arbeiten, sondern das liegt daran, dass wir uns, ehe wir ein funktionierendes Geschäftsmodell finden, durch jede Menge Zeug graben müssen, das nicht funktioniert.

Bahnbrechende Einsichten verstecken sich oft in fehlgeschlagenen Experimenten.

Die meisten Entrepreneure laufen jedoch vor Misserfolg weg. Beim ersten Anzeichen von Misserfolg wechseln sie den Kurs, ohne sich die nötige Zeit zu nehmen, um tiefer zu graben und die Grundursache des Misserfolgs zu finden. In der Lean-Startup-Methodologie wird oft der Begriff Pivot genutzt, um diese Art von Kurskorrektur zu rechtfertigen.

Aber das ist natürlich eine missbräuchliche Nutzung des Begriffs:

Ein Pivot, der nicht in Gelerntem begründet liegt, ist einfach eine getarnte Schau'n-mer-mal-Strategie.

Der Schlüssel zum Durchbruch liegt darin, vor Misserfolg nicht wegzulaufen, sondern – wie die Erfinder oben – auf dem eigenen Standpunkt zu beharren und nach dem Warum zu fragen. Die Redewendung fail fast wird oft genutzt, um diese Ansicht zu bekräftigen. Aber ich habe erkannt, dass das Tabu des Misserfolgs so tief sitzt (und zwar überall außer vielleicht im Silicon Valley), dass failing fast nicht ausreicht, damit die Leute Misserfolg als Voraussetzung für Bahnbrechendes akzeptieren. Eigentlich müssten wir das Wort Misserfolg komplett aus unserem Vokabular streichen.

Es gibt keine fehlgeschlagenen Experimente, nur Experimente mit unerwarteten Ergebnissen.
— Buckmister Fuller

Dieser Artikel wurde im Original am 8. Juni 2016 unter dem Titel The Art of the Scientist von Ash Maurya veröffentlicht. Ash Maurya gehört zu den führenden Köpfen der internationalen Gründerszene und ist einer der renommiertesten Experten für Lean Startup und Customer Development. Die Website seines Unternehmens LEANSTACK und seinen Blog erreichen Sie unter http://leanstack.com. Mehr Fachartikel bietet unser Lean-Special.

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