Ein tiefes Bewusstsein des gegenwärtigen Nutzererlebnisses

"Meine Güte! Wir machen es unseren Nutzern wirklich schwer, stimmt's?" Das sagte der Vice President des Geschäftsbereichs, sobald die Nutzertest-Session beendet war.

Er war fassungslos darüber, wie schwierig es für die User gewesen ist, in das Produkt einzusteigen. Es war die übliche Tonleiter frustrierender Nutzererlebnisprobleme.

Der Einstiegsprozess war komplex. Der User musste Informationen eingeben, die er im Moment nicht so einfach zur Hand hatte. Er wurde in einem Jargon angesprochen, den er nicht verstand. Er sollte Features und Optionen wählen, die nicht erklärt wurden.

Etwas, von dem der VP angenommen hatte, dass es vielleicht fünf Minuten dauern würde, hatte mehr als 30 Minuten gebraucht. Der User war komplett frustriert und hatte keine Lust mehr, das Produkt auszuprobieren, als es endlich aufgesetzt war. "Das ist kein gutes Erlebnis!", stellte der VP fest.

Es war das erste Mal, dass der VP da saß und einen User beobachtete, wie er den Einführungsprozess durchlief. Er hatte keinen Schimmer davon, wie es für die Nutzer ist. Als das Team ihm sagte, dass sie viele andere Nutzer mit ähnlichen Problemen beobachtet hatten, sank der VP in seinem Stuhl zusammen.

Dann berichtete das Team, dass die Analytics-Daten des Produkts zeigten, wie die nicht nur dieser eine, sondern fast alle neuen User über 30 Minuten mit der Einrichtung verbrachten. "Das muss unsere Top-Priorität für das nächste Release sein!", drängte der VP. Er war sich des derzeitigen Nutzererlebnisses nun voll bewusst. Und das änderte alles.

Wie sich eine Isolation vor den Nutzererlebnissen bildet

UX-Fachleute klagen oft darüber, dass andere Leute im Unternehmen keine Empathie für die Nutzer und für das, was sie durchmachen, hätten. Aber woher denn auch? Wann werden sie den gegenwärtigen Erlebnissen der Nutzer mit dem Produkt oder Dienst ausgesetzt? Wenn sie nichts davon sehen, können sie wahrscheinlich auch keine Empathie für die User entwickeln.

Wenn das Unternehmen sehr klein ist – ich meine WIRKLICH klein, so zwei oder drei Leute –, dann ist sich das Führungsteam der gegenwärtigen Nutzererlebnisse sehr stark bewusst. Das liegt daran, dass die Unternehmensführung Tag für Tag direkten Kontakt mit den Kunden hat. Das müssen sie, schlicht um zu überleben.

Wenn die Kunden von etwas am Produkt oder Dienst frustriert sind, erfahren es die Geschäftsführer sofort. Sie erheben das Problem zur Priorität, denn ihr Überleben hängt davon ab. Die haben Empathie für ihre User, weil sie sich des gegenwärtigen Nutzererlebnisses voll bewusst sind.

Es wäre toll, wenn sich das auf ewig so fortsetzen würde. Aber wenn das Unternehmen erfolgreich ist, muss es wachsen. Es kommen mehr Leute dazu.

Einiger dieser Leute werden ein Vertriebsteam formen. Andere werden einen Kunden-Support aufbauen. Einige kommen als Entwickler und Produktmanager, andere als zusätzliche Führungskräfte und Stakeholder.

Mit all diesen Leuten sind die ursprünglichen Gründer nun von ihren Usern distanziert. Es ist, als würde sich mit jedem neuen Mitarbeiter eine dünne Isolierschicht zwischen den Gründern und den Nutzern bilden. (Und wenn die Nutzer nicht die Kunden sind, formen sich auch hier Isolierschichten.)

Ist das Unternehmen dann zur Enterprise-Organisation angewachsen, ist die Isolierung dick. Und wie es sich für eine gute Isolierung gehört, dringt kein Bewusstsein durch sie hindurch. Die Geschäftsführer, die erweiterte Führungsmannschaft und das Produktteam sind nun komfortabel von den Nutzererlebnissen isoliert.

Es ist nicht so, dass diese Kollegen keine Empathie für die User hätten. Es ist die Isolation, die sie davon abhält, potenzielle Empathie auch in der Praxis auszuüben.

Die Isolation durchbrechen

Die erste Aufgabe eines UX-Leaders ist ganz geradeaus: Es geht darum, ein Loch in die Isolierung schlagen. Ein tiefes Bewusstsein des aktuellen Nutzererlebnisses zu vermitteln. Den Führungskräften, Stakeholdern, Produktmanagern, Entwicklern und allen anderen, die Schlüsselentscheidungen im Hinblick auf das Nutzererlebnis treffen, ein Gefühl dafür zu geben, wie es ist, der Nutzer zu sein, und so Empathie aufzubauen.

Teams müssen auf schwache Signale lauschen. Diese treten auf, wenn Kunden sich bei Verkäufern beklagen oder wenn Nutzer nach einem neuen Feature fragen. Berichte über die Kundenanrufe beim Support sind ebenfalls schwache Signale.

Schwache Signale sehen wie Bewusstsein aus. Leider sind sie im besten Fall oberflächliches Bewusstsein. Design-Leader tun gut daran, diese Signale direkt tiefergehend zu untersuchen. Wenn sie die zugrundeliegenden Erfahrungen identifizieren können, die die Klagen oder Anfragen ausgelöst haben, ist es ihnen möglich, die schwachen Signale in tiefes Bewusstsein zu verwandeln.

Alles beginnt mit einem ernsthaften Nutzerforschungsprogramm

Wir haben UX-Leader gesehen, die ihre Organisationen mit einem tiefen Kundenbewusstsein erfüllen, das Veränderungen antreibt. Das ist kein schneller Prozess. Er braucht Zeit.

Aber sie alle sind einem ähnlichen Ansatz gefolgt. Angefangen haben sie damit, ihre Möglichkeiten und Kapazitäten für Nutzerforschung aufzustocken. Sie haben Leute raus ins Feld gebracht, damit sie aus erster Hand sehen, was ihre Kunden erleben.

Und dabei konnten sie sich nicht auf eine exklusive Gruppe von UX-Fachleuten beschränken. Sie mussten Produktmanager, Entwickler, Stakeholder und sogar Manager mitnehmen. Diese UX-Leader haben die Nutzerexposition zur Priorität erhoben.

Das alles hat Zeit gebraucht. Alle UX-Leader, denen wir begegnet sind, haben uns erzählt, dass sie diesen Prozess gerne schneller vorangebracht hätten. Sie sagten, es hätte ihre Geduld wirklich auf die Probe gestellt.

Die Geduld hat sich ausgezahlt, weil in einer Serie kleiner Schritte immer mehr Leute den Nutzern ausgesetzt wurden. Sie haben ein tiefes Kundenbewusstsein erreicht, das Veränderungen beflügelt.

Tiefes Bewusstsein zur Normalität machen

Nach der Erhöhung der Nutzerforschungskapazitäten im Unternehmen besteht die nächste Phase darin, das Bewusstsein konstant zu halten. Das ist in großen Organisationen nicht einfach, in denen es im Minutentakt neue Krisen gibt, die jedermanns Aufmerksamkeit einfordern.

Um in allen das Bewusstsein für die Erfahrungen der User wachzuhalten, haben die UX-Leader unterschiedliche Ansätze gewählt. Eine gebräuchliche Strategie besteht darin, Kundenbewusstsein während der Lebenszyklen von Teamprojekten aufzubauen.

Der Start eines neuen Projekts ist eine gute Gelegenheit, um diese Verhaltensweisen einzuführen. Die Durchführung einer Entdeckungsphase, in der das gesamte Team von Angesicht zu Angesicht mit den Nutzern gebracht wird, sendet ein starkes Signal dahingehend, was diese Kunden erleben. Auch andere Techniken wie beispielsweise das Vorgehen, Projekte mit Design-Sprints zu beginnen, verankern UX-Design und Nutzerpartizipation in den Köpfen der Leute.

Um bewusste Verhaltensweisen über die Dauer eines Projekts hinweg aufzubauen, integrieren UX-Leader erweiterte Forschungs- und Untersuchungstechniken wie regelmäßige Feldbesuche für alle Teammitglieder in den UX- und Entwicklungsprozess. Und sie stellen regelmäßig unter Beweis, wie Teams, die dies tun, bessere Resultate produzieren.

Wenn sie Erfahrungswerte und Learnings über die Nutzererlebnisse sammeln, können UX-Leader ihre Teams dabei anleiten, Journey Maps zu erstellen und detaillierte Szenarien zusammenzusetzen. Sie machen es schließlich zur Gewohnheit, diese Artefakte in allen Diskussionen über Funktionen oder Design-Aspekte heranzuziehen.

Tiefes Bewusstsein ist das Geheimnis wachsender UX-Möglichkeiten

Jeder hat Empathie (mal von Soziopathen abgesehen). Das bedeutet, dass das Problem eines Teams nicht darin besteht, überhaupt Empathie bei den Mitgliedern zu entwickeln. Das Problem besteht darin, wie wir Expositionsgelegenheiten anbieten können, um diese Empathie zu kanalisieren.

Wir müssen durch die Isolation brechen, die auf natürliche Weise in unseren Organisationen entsteht. Wir müssen ein tiefes Bewusstsein dafür aufbauen, wie das gegenwärtige Nutzererlebnis beschaffen ist.

Wenn wir das erreicht haben, können wir damit anfangen, ein Bild davon zu zeichnen, wie das ideale künftige Erlebnis beschaffen sein könnte. Wir können Experience-Visionen nutzen, um die Story zu teilen, deren Auslieferung wir anstreben. Manager, Stakeholder und Produktteams können dieses idealtypische Nutzererlebnis mit ihrem tiefen Bewusstsein des gegenwärtigen Nutzererlebnisses abgleichen. Hier entstehen Empathie und Verständnis, hier findet die echte Magie statt.

Dieser Unterschied ist es, der wirklichen Wandel in der Organisation anregt. Das Verlangen, Frustration zu beseitigen und das Erlebnis mit dem Produkt oder Dienst zu verbessern, repräsentiert den wahren Wert, den wir unseren Kunden und Nutzern bringen können. So treiben wir unsere Organisationen an, besser designte Produkte und Dienste auszuliefern.

Dieser Artikel wurde im Original am 10. September 2019 unter dem Titel Deep Awareness of the Current Experience von Jared M. Spool veröffentlicht. Jared M. Spool gehört zu den führenden User-Experience-Experten unserer Zeit. Seine Website erreichen Sie unter http://www.uie.com. Weitere Artikel von Jared M. Spool finden Sie im UX-Special von //SEIBERT/MEDIA.

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