Agile Leadership: Nützlicher Ansatz für moderne Führung oder gefährliche Denkfalle?

Dies ist ein Begleitartikel von Dr. Timo Volkmer zu seinem Vortrag "Agile Leadership - Braucht man das?" auf der Tools4AgileTeams-Konferenz 2020.


In den letzten Jahren werden die Schwierigkeiten immer deutlicher, die Wirtschaftsunternehmen begegnen, wenn sie mit unerwarteten Ereignissen umgehen müssen. Zweifelsohne hat die Komplexität der Märkte zugenommen. Die Überraschungsintensität ist gestiegen, tradierte Geschäftsmodelle funktionieren immer weniger und langfristige Planungen werden immer häufiger obsolet.

Vielen Unternehmen fehlt es an der Fähigkeit, mit sich häufig und schnell verändernden Marktbedingungen umzugehen. Diese Fähigkeit wird auch als Agilität bezeichnet. Die Forderung “Unternehmen müssen agiler werden” ist dementsprechend auch nicht neu. Eine ganze Bewegung aus Coaches und Beratern widmet sich der Aufgabe, Unternehmen sogenannten Agilen Transformationen zu unterziehen. Die Wurzeln der agilen Bewegung liegen in einer Initiative mehrerer Software-Entwickler, die um die Jahrtausendwende das Manifest für agile Software-Entwicklung verfasst haben.

Schon seit einiger Zeit wird in der agilen Szene sogenanntes Agile Leadership, also agile Führung, propagiert. Der Ansatz entlehnt Prinzipien aus dem Manifest für agile Software-Entwicklung und versucht, Verhaltensempfehlungen für die Arbeit von Führungskräften in Unternehmen zu geben.

Nach dem, was alles über Agile Leadership zu lesen ist, kann man nur mutmaßen, welche Ziele damit verfolgt werden. Mal ist es eine menschenwürdigere, wertschätzendere Führung durch Führungskräfte. Mal ist es eine wirksamere Führungsarbeit. Und anderswo steht, dass Agile Leadership den Mitarbeitenden zu mehr Eigenverantwortung verhelfe. Das sind alles sehr ehrenwerte Absichten. Gut gedacht ist aber nicht immer gut gemacht, und ehrlich gesagt ist es nicht einmal gut gedacht, denn ich sehe in diesem Ansatz gleich mehrere Denkfehler.

Führung, die keine ist

Der Ansatz von Agile Leadership richtet sich an Führungskräfte. Deshalb steckt darin die Annahme, Führung sei etwas, das einer Person qua ihrer Rolle zugesprochen werden kann. Diese Person führt dann andere Personen, was mit höherer disziplinarischer Macht der Führungskraft einhergeht – ein Bild, dass sich in der klassisch-tayloristischen Welt gefestigt hat und in weiten Teilen als alternativlos angenommen wird. Tatsächlich ist Führung aber ein soziales Phänomen, welches die Freiwilligkeit der Gefolgschaft voraussetzt. Führung findet dann zwischen Menschen statt, wenn eine oder mehrere Personen sich freiwillig entscheiden, einer oder mehreren anderen Personen in ihren Ideen und Vorschlägen zu folgen.

Echte Freiwilligkeit ist in den meisten (mit formeller Macht ausgestatteten) Führungskraft-Mitarbeitende-Beziehungen aber schlicht nicht gegeben, auch wenn man es gerne so aussehen lassen möchte. Gegenüber einer mit disziplinarischer Macht ausgestatteten Person müssen Mitarbeitende zwangsläufig mögliche Konsequenzen ihrer Nicht-Gefolgschaft mitbedenken. Bereits der Begriff "Führungskraft" beinhaltet also eigentlich einen Denkfehler. Vielmehr müsste hier von Steuerung die Rede sein. Der Begriff des Agile Leadership bedient aber weiterhin dieses verfälschte Bild.

Personifizierung von Schuld

Da sich der Agile-Leadership-Ansatz direkt an Führungskräfte wendet und an ihrem Verhalten ansetzt, steckt in ihm auch eine – sicher ungewollte – Schuldzuweisung. Die bisherige Führungsarbeit wird in Frage gestellt, gar disqualifiziert, und eine neue Art der Führungsarbeit wird gefordert.

Dabei wird ausgeblendet, dass man den betreffenden Führungskräften durchaus intelligentes Verhalten attestieren muss. Im bestehenden System ist es ein nicht nur legitimer, sondern geradezu gesellschaftlich geforderter Karriereweg, Führungskraft zu werden. Menschen, die auf diesem Weg erfolgreich waren, haben ein hohes Maß an Systemintelligenz bewiesen. Die Forderung nach anderem Verhalten beinhaltet den Vorwurf, es bisher nicht richtig gemacht zu haben.

Hier wird also Schuld personifiziert und der Blick auf das strukturelle Problem verstellt. Wirksamer wäre es, nach Ursachen für das beobachtete Verhalten im Gesamtsystem des Unternehmens zu suchen, um dann an Systemänderungen zu arbeiten. Was macht das beobachtete Verhalten in diesem Kontext vernünftig? Leider kommt es dazu nicht.

Aufrechterhaltung zentralisierter Steuerung

Aus den beiden oben genannten Gründen trägt der Agile-Leadership-Ansatz zum Systemerhalt bei. Zwar klingt der Begriff modern und beinhaltet vermeintlich neue Ansätze, haftet aber in Wahrheit in einem über 100 Jahre alten Denkmodell. Ohne die Leistung Frederick W. Taylors schmälern zu wollen, muss man sagen, dass dieses Denkmodell damals zwar revolutionär und äußerst wirksam war, aber in der heutigen Zeit für Wertschöpfung in komplexen Märkten nicht mehr hilfreich ist.

Zentralisierung ist bei hoher Veränderungsintensität stets hemmend, denn Entscheidungswege werden verlängert, Wissen konzentriert sich an den falschen Stellen und Verantwortung wird den direkt am Markt agierenden Bereichen des Unternehmens entzogen. In zentralisiert strukturierten Unternehmen müssen Markterfahrungen erst zu bestimmten, a priori festgelegten Entscheidungsträgern kommuniziert werden. Diese arbeiten dann an Lösungen, wobei sie mit dem eigentlichen Problem keine Erfahrung haben. Die gefundene Lösung wird schließlich zurück an den Ort kommuniziert, an dem man das Problem festgestellt hat. Das macht nicht nur langsam, es führt auch allzu oft zu unpassenden Lösungsansätzen für neu erfahrene Problemstellungen.

Esoterische Effekthascherei

Zu guter Letzt bringt der Agile-Leadership-Ansatz noch eine Problematik mit sich, die möglicherweise weniger offensichtlich ist: Es ist ein Ablenkungsmanöver. Sicherlich ungewollt, aber deshalb nicht weniger schädlich.

Wahrscheinlich gibt es nur wenige Themen in der Organisationsentwicklung, über die mehr geschrieben wurde als über Führung. Den meisten Artikeln wohnt das oben beschriebene Denkmodell tayloristischer "Führung" inne, das mit sozial legitimierter Führung nicht vereinbar ist. Die sozialen Wirkzusammenhänge zwischen Gefolgschaft durch Anerkennung oder Gefolgschaft durch disziplinarischen Druck bleiben unverstanden und werden verschleiert. Diese Unterscheidung ist jedoch wichtig, um ein genaues Verständnis für das soziale System "Unternehmen" zu entwickeln.

Auch hier ist der Agile-Leadership-Ansatz nicht hilfreich, denn er verschleiert die genannten Differenzierungen weiter. Mehr noch: Wir fügen zusätzliche Unklarheit hinzu. Es wird mehr und mehr erklärungsbedürftig, was (Agile) Leadership denn nun genau bedeutet. Es bleibt unklar, wie mit dem Ansatz Wirksamkeit für bessere Wertschöpfung erzielt werden soll. Nutzen bringt der Ansatz bislang nur für Berater – ermöglicht er es doch, sich geradezu esoterisch positionieren zu können. So lassen sich Schulungen und Workshops für etwas schwer Greifbares, vermeintlich nur für wirkliche Könner in der Materie Erreichbares verkaufen. Wenn die Wirksamkeit dann ausbleibt, ist es ein Leichtes, jegliche Verantwortung abzustreiten. Der Kunde hat es dann einfach nicht richtig verstanden.

Warum ist das problematisch?

Die Ursachen, weshalb Unternehmen heutzutage schlecht mit hoher Marktdynamik umgehen können, liegen in ihrer Struktur. Insbesondere der Ansatz zentralistischer Steuerung, um Wertschöpfung zu erzeugen, versagt unter hoher Komplexität. Daran ändert sich auch nichts, wenn man diese Art der Steuerung nun als Agile Leadership verpackt.

Weitaus mehr Erfolg verspricht die konsequente Dezentralisierung von Wissen und Entscheidungen, die strukturell hergestellt wird. Denn dann kann sich ein Unternehmen schnell auf neue Marktbedingungen einstellen. Wo echte Führung stattfinden kann, können Teams und ganze Unternehmen situativ auf neue Sachverhalte reagieren – und zwar sofort, ohne erst einen trägen Genehmigungsapparat in Gang setzen zu müssen. Das macht agil.

Die neue Begrifflichkeit hilft nicht dabei, wirkliche Systemüberwindung zu erreichen, sondern sie manifestiert sogar auf subtile Art und Weise den Status quo. Wir stellen damit eine Denkfalle auf, in die wir allzu leicht hineintappen.


Hier ist ergänzend zu diesen Überlegungen die Aufzeichnung des Vortrags "Agile Leadership – Braucht man das?" von der Tools4AgileTeams-Konferenz 2020:

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Als IT-ler ins Arbeitsleben eingestiegen, beschäftigt sich Dr. Timo Volkmer seit über zwölf Jahren mit den Themen agiles Arbeiten und Organisationsdesign. Im Wechsel als Angestellter oder Selbstständiger berät er unterschiedlichste Unternehmen deutschlandweit bei Transformationsvorhaben. Details zu seiner Tätigkeit und zu seinen Erfahrungen sind auf Timo Volkmers Website zu finden.

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