Ein richtiges Gefühl für Design mit Schrift entwickeln (Teil 1)

UX-Tag-CloudNur wenige Dinge erfüllen das Herz eines UX-Designers mit so viel Angst und so viel Aufregung gleichermaßen wie ein Kunde in einem Projekt, der eine neue Schriftart haben will. Es ist aufregend, etwas Neues anzupacken. Doch die Komplexität der Aufgabe, die richtige Schrift für das UX-Design zu bestimmen, kann ausgesprochen furchteinflößend sein.

Wenn wir mit UX-Designern sprechen, scheint es so, dass die Angst oft daher kommt, dass ihrer Vorstellung nach die Arbeit mit Schrift komplex ist. Schrift hat eine reichhaltige Historie, die Jahrhunderte zurück reicht. Zugleich haben die Designer heutzutage mehr Wahlmöglichkeiten, Kontrolle und Flexibilität als je zuvor. Mit all dem geht die Sorge einher, dass sie es vermasseln und jeder es mitbekommt.

Erfahrene UX-Designer scheinen Schrift intuitiv zu handhaben. Sie wissen, wie man eine großartige Schriftart für das neueste UX-Design wählt. Sie verstehen, wie der Abstand justiert werden muss, um die richtige Balance und Fluss zu erzielen. Sie können eine Seite so komponieren, dass sie sich individuell anfühlt, ohne den User beim Aufnehmen der Wörter zu stören.

Aber wenn man zum ersten Mal mit Schrift designt, kann es abschreckend erscheinen. Leider ist der Rat erfahrener UX-Designer oft nicht hilfreich. "Du weißt, dass du es richtig gemacht hast, wenn es sich richtig anfühlt", ist ein gebräuchliches Mantra, das denen, die loslegen wollen, nicht wirklich eine Anleitung oder eine Richtung an die Hand gibt.

Die Rolle des Gefühls in der Kreativität

Wenn erfahrene UX-Designer einem sagen, man solle seinen Gefühlen vertrauen, sind sie keine Idioten. Technisch liegen sie richtig. Was ein erfreuliches von einem unerfreulichen Design unterscheidet, kann nicht auf eine Reihe von Regeln reduziert werden. Es ist ein Gefühl.

Als ich letztens beispielsweise den Schriftexperten Tim Brown nach Regeln für Abstände zwischen Buchstaben fragte, sagte er, dass es keine Regeln gäbe. Er nutzt sein Gefühl, um sein UX-Design für den richtigen Schriftabstand zu verfeinern.

Es gibt jede Menge kreative Aktivitäten, in denen Gefühl als Wegweiser dient, wenn es ans Verfeinern geht. Chefköche kombinieren Zutaten nicht nach exakten Mengen, weil sie ein Gefühl dafür haben, was im Zusammenspiel großartig schmecken wird. Erfahrene Musiker können die richtigen Noten zur richtigen Zeit in der richtigen Länge spielen, weil sie wissen, dass es sich richtig anhören wird.

Interessanterweise kann jeder dieses Gefühl entwickeln. Es braucht Lernen und Übung, weil es eine erlernte Fähigkeit ist. Die erfahrenen UX-Designer, mit denen wir sprachen, konnten nicht immer sagen, wie sie mit Schrift designen. Aber vielleicht wie sie es gelernt hatten?

Der Blick der Gestalttheorie auf Design mit Schrift

Wenn er mit Schrift arbeitet, manipuliert der UX-Designer dutzende von Attributen. Er muss die Schriftart wählen, über die Abstände entscheiden, rausfinden, welche Größe passt, die Zeilenbreite festlegen und noch viel, viel mehr.

Für keines dieser Attribute an sich gibt es ein richtiges oder falsches Stadium. Es gibt zum Beispiel keine Zeichengröße, die immer falsch oder immer richtig ist, wenn man sich die Schrift als solche ansieht.

Dann, wenn die Schriftgröße mit anderen Attributen kombiniert wird, kann die Schrift im Design schnell zu klein oder zu groß erscheinen. Und wir können das Attribut Schriftgröße wieder zum Funktionieren bringen, indem wir andere Attribute justieren und die Schriftgröße gar nicht antasten. Damit sich ein spezifisches Attribut richtig anfühlt, ist es manchmal am besten, die anderen Attribute zu optimieren.

Diesen Effekt nennen die Gestalttheoretiker Feldtheorie. Das Feld ist der ganzheitliche Blick auf die Welt, oder in diesem Fall auf das komplette UX-Design. In der Gestalttheorie erhält man das beste Ergebnis, indem man all die Attribute eines Feldes justiert und sich nicht an einem einzelnen festkrallt.

Aus diesem Grund sprechen erfahrene UX-Designer immer davon, wie sich die Schrift auf der Seite anfühlt. Es ist nicht so, dass sie mysteriös erscheinen wollen. Sie reden eben über das gesamte Feld – der ganzheitliche Blick auf das UX-Design.

Drei Größenebenen bei der Arbeit mit Schrift

Um ganzheitlich über Schrift-Design nachzudenken, braucht es mehrere Ebenen. Meine Gespräche mit Tim Brown brachten mich dazu, Schrift-Design als Arbeit an drei unterschiedlichen Größenordnungen anzusehen.

Wenn wir in die höchste Größenebene zoomen, arbeiten wir direkt mit der Schriftart. Auf diesem Level sind die Attribute, mit denen wir spielen, die Formen der Buchstaben und Wörter. Wir finden die richtige Schriftart für das Projekt heraus, die individuelle Zeichenbreite und die spezifischen Buchstaben. Wir fokussieren uns auf das Charakter Kerning (den Abstand zwischen den Buchstaben) und Details wie Ligaturen und kleine Großbuchstaben.

Zoomen wir raus auf die mittlere Ebene, arbeiten wir mit Textblöcken. Auf diesem Level kontrollieren wir die Attribute rund um das Aussehen der Textblöcke, also Buchstabengröße, Zeilenlänge, Zeilenabstand etc. Wir schauen auf die Balance zwischen Schwarz- und Weißraum.

Ein Zoom auf die kleinste Vergrößerungsebene bringt uns zur Komposition der gesamten Seite. Die Attribute sind Hierarchie und Kontrast. Wir manipulieren, wie die verschiedenen Textblöcke wechselwirken und nutzen Strukturelemente wie Titel, Textkörper, Zwischenüberschriften und Textboxen. Unser Fokus liegt nun darauf, wie die Leute sich durch die Textblöcke bewegen und die Komposition dabei ihren Zweck erfüllt.

Um unseren Sinn für das richtige Gefühl zu entwickeln, müssen wir verstehen, wie wir die diversen Attribute auf jeder Ebene manipulieren können. Wir brauchen einerseits Verständnis, wie ein jedes Attribut für sich funktioniert, und andererseits müssen wir lernen, wie sie zusammenarbeiten. Wir können sehen, wie eine Änderung auf dem Schriftart-Level – sagen wir die Zeichenbreite – nicht nur beeinflusst, wie sich die Schriftart anfühlt, sondern auch die Textblöcke und die Komposition verändert.

Die schiere Menge an Attributen auf jeder Ebene und die Effekte, die sie auf das Gesamt-Design haben, macht die Arbeit mit Schrift so einschüchternd. Aber wir können lernen, wie wir Entscheidungen treffen, die uns schnell zu herrlichen UX-Designs führen.

Im zweiten Teil dieses Artikels zeigt der Autor Methoden auf, um sich so etwas wie ein Gefühl für Schrift anzueignen.

Dieser Artikel wurde im Original am 30. Juli 2014 unter dem Titel Developing a Right Feeling for Designing with Type von Jared M. Spool veröffentlicht. Jared M. Spool gehört zu den führenden User-Experience-Experten unserer Zeit. Seine Website erreichen Sie unter http://www.uie.com. Weitere Artikel von Jared M. Spool finden Sie im Usability-Special von //SEIBERT/MEDIA.

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