Moderne Organisationsentwicklung (Episode 5): Sind wir eigentlich zu agil? Oder: Warum es Prozesse bei uns schwer haben

Wie kann ein agiles Unternehmen weiter wachsen, ohne dabei seine Identität und seine Werte aufs Spiel zu setzen? Unser Ansatz ist die Weiterentwicklung zu einer kollegialen Netzwerkorganisation. Und hier haben wir die ersten Hürden schon hinter uns.

Welche Schritte sind wir bereits gegangen, für welche Herausforderungen haben wir schon Lösungen gefunden und was steht als Nächstes an? Darüber berichten wir regelmäßig in unserem Podcast "Echt jetzt? Seibert Media denkt Agilität neu". Darin diskutieren Jo Seibert in seiner Funktion als interner Agile Coach und Alina Hamm als Organisationsentwicklerin mit Ralf Janssen von Kompano, der unser Unternehmen bei der Neustrukturierung begleitet.

In den ersten Folgen von "Echt jetzt? Seibert Media denkt Agilität neu" haben wir euch berichtet, warum wir uns für die kollegiale Führung entschieden haben und welche Veränderungen notwendig sind, um den Prozess anzustoßen. Langsam wird es immer deutlicher spürbar, dass wir uns auf dem Weg befinden. Arbeitskreise haben sich gebildet und bereits mehrfach getroffen. Wir haben über verschiedene Wahlverfahren diskutiert, über laute und leise Meinungen und über die Bedeutung dieses ganzen Prozesses für unsere Kultur.

In der fünften Episode im Echt jetzt?-Podcast stellen sich Jo, Alina und Ralf einigen Fragen zur Prozesstreue, zur Selbstorganisation und zum Selbstverständnis. Brauchen wir Prozesse überhaupt? Oder sind wir zu agil dafür? Gibt es auch bei Seibert Media alte Muster, die wir ablegen sollten? Und wie steht es um unsere Freiheit? Müssen wir die jetzt für mehr Struktur aufgeben?

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Verbindlichkeit und Prozesstreue: Sind wir zu agil?

Nach einer kurzen Vorstellungsrunde zu Ehren der neuen Stimme in der Runde berichtet Alina von der Erfahrung, intensiv an einem Projekt gearbeitet zu haben, das dann doch nicht umgesetzt wurde, was sie als frustrierend empfand. Ist ihr Erlebnis ein Beispiel für die problematische Seite der Agilität? Vielleicht sollten wir einen Blick auf die Prozesstreue werfen, schlägt Jo vor und stellt die provokante Frage: "Sind wir eigentlich zu agil?"

Das greift Ralf auf und hält dem entgegen, dass nicht die Agilität das Problem sei, sondern die fehlende Verbindlichkeit. Bei Scrum gebe es beispielsweise ja bestimmte Prozesse, Rollen und Artefakte. Wichtig sei es, erst einmal die Methoden zu kennen, sich an sie zu halten und Erfahrungen mit ihnen zu sammeln. Erst dann wäre es sinnvoll, sie zu variieren und gemeinsam den eigenen Weg für das jeweilige Unternehmen zu entwickeln. Sein Fazit: Verbindlichkeit und Agilität sind kein Widerspruch.

Außerdem ginge es, so Ralf, bei dem Wechsel zur kollegialen Führung auch nicht primär darum, was bei Seibert Media falsch läuft, sondern darum, ob Seibert Media für die Zukunft gut aufgestellt ist. Was in der Vergangenheit gut geklappt hat, Prozesse hin oder her, sei ja nicht der Grund für die angestrebte Veränderung. Entscheidend ist die Erkenntnis, dass es bei einem stetig wachsenden Unternehmen in Zukunft vielleicht doch mehr Klarheit und Strukturen braucht:

"Vereinbarungen sollte man auch halten, denn wir sind ja hier eine Organisation von jetzt 200 Mitarbeitern. Und wenn wir alle nun ständig verabreden, dass wir alles so machen - und es dann doch anders machen, wird es auf Dauer schwierig."

Sind Selbstorganisation und Prozesstreue unvereinbar?

Bei Seibert Media haben wir einen hohen Grad an Selbstorganisation. Ist das vielleicht der Grund dafür, dass die Prozesstreue nicht so hoch ist? Nein, meint Ralf, denn mit Selbstorganisation in Unternehmen ist etwas anderes gemeint als die Fähigkeit, sich selbst zu organisieren:

"Ich kann mich selbst organisieren. Das können wir natürlich sowieso alle, sonst würden wir gar nicht durchs Leben kommen. Hier geht es darum, dass die Organisation als solche sich selbst organisieren muss - und dazu gehören verbindliche Metaprozesse: Wie wollen wir zusammenarbeiten und wie wollen wir Entscheidungen treffen?"

Jo überlegt weiter: "Es gibt natürlich vereinbarte Prozesse; die werden gelebt - und die leben auch." Diese Prozesse sind im Unternehmens-Wiki auch dokumentiert. Doch sie werden nicht immer aktualisiert. Aber muss denn wirklich alles dokumentiert werden? Was, wenn sich keiner daran hält, fragt sich Alina und sagt:

"Es ist noch wichtiger, dass das verinnerlicht wird. Wir haben ja ganz viele Prozesse, die irgendwo mal dokumentiert worden sind. Aber was bringt die Dokumentation, wenn es nicht verinnerlicht und im Arbeitsalltag gelebt wird?"

Ralf meint dazu, es gehe darum, ein gemeinschaftliches Verständnis davon zu entwickeln, wie wir arbeiten und entscheiden wollen. Dafür sei eine detaillierte Prozessdokumentationen gar nicht zwingend notwendig.

Shu Ha Ri: Lerne die Methoden, wenn du Meister werden willst!

Um kollegiale Führung zu erreichen, muss nicht jeder Prozess diskutiert werden, findet Ralf, aber es braucht Metaprozesse, die sogar richtig unbequem sein können. Nur so hat Veränderung eine Chance. Am Anfang werden deshalb die kollegialen Führungswerkzeuge und Methoden genau befolgt, damit man sich erst einmal ein Urteil bilden kann. Erst wenn diese Tools verinnerlicht sind, kann man dann auch gerne wieder davon abweichen.

Jo Seibert fällt dazu das Shu Ha Ri aus dem Kampfsport ein:

"Lerne erstmal die Methode, mach sie nach, wie sie eben im Buch steht, (...) und dann wirst du zum Meister, kannst variieren - und irgendwann bist du Bruce Lee und kannst kämpfen wie du willst, weil du das einfach verinnerlicht hast."

Seibert Media ist also, was die kollegiale Führung betrifft, in der Phase 1, in der es um das Erlernen der Methode geht.

Und wann kommt die nächste Phase? Wann sind die ersten Erkenntnisse da? Noch ist es eindeutig zu früh. Natürlich gibt es jetzt erste Erfahrungen mit der Konstitution von Kreisen, mit den Wahlverfahren und mit der Kreisbesetzung. Aber die ersten größeren Erkenntnisse können wir erst in circa einem Dreivierteljahr erwarten, mein Ralf, und zwar dann, wenn in diesen Kreisen gearbeitet wurde und wenn die ersten Konflikte und Spannungen selbständig gelöst werden konnten.

Diesen Prozess wird Ralf mit Reflexionsangeboten begleiten, immer mit dem Ziel, ein anderes Denken und Handeln entstehen zu lassen:

"Ansonsten habe ich so ein bisschen die Sorge, dass ganz schnell mit den alten gewohnten Mustern einfach das Neue angewendet wird."

Und was heißt das jetzt für unsere Freiheit?

Sicher, Seibert Media ist alles andere als ein klassisches Traditionsunternehmen. Hier arbeiten mehrheitlich Menschen, denen Freiheit und Kreativität wichtig sind. Ein Top-down-Organigramm kann man lange suchen. Der hohe Grad an Freiheit und Selbstverantwortung gehört zur DNA von Seibert Media und ist ein Grundpfeiler des Erfolgs.

Die Kehrseite der Medaille: Damit haben sich aber auch Muster in der Organisation entwickelt, was sich unter anderem in der Personalauswahl zeigt. Dass alle Mitarbeitenden mehr oder weniger ähnlich geprägt sind, könnte in der Zukunft problematisch werden. Denn wenn alle ähnlich ticken, sind bestimmte Bereiche nicht gut abgedeckt.

Es könnte beispielsweise sein, dass die meisten Leute stark im analytischen Denken sind, sehr emotional und freiheitsliebend auftreten, aber weniger gut in puncto Empathie oder Struktur sind. Als größer werdende Organisation ist aber etwa der Bereich Struktur zunehmend wichtig, zum Beispiel für das Thema ISO-Qualifizierung.

Um auch Leute anzuziehen, die neue, anders geartete Projekte vorantreiben, braucht es eine Haltung, die sich nicht nur aus alten Mustern zusammensetzt, eine Glaubenspolarität, so Ralf, die ausgewogen ist, die Schwerpunkte in allen Bereichen hat und die jede einzelne der verschiedenen Ausrichtungen wertschätzt.

Feedback zur Portfolio-Wahl: viel positive Resonanz

Zum Abschluss des Podcasts berichten Alina, Jo und Ralf von der Wahl für den Portfolio-Kreis. Die meisten haben sich über die mehrfache Bestätigungen gefreut, das wurde als unerwartetes, positives Feedback gewertet, fühlte sich aber auch etwas seltsam an. Nur einer hätte nach seinem persönlichen Widerstandswert gefragt, was aber der Vereinbarung für eine anonyme Wahl entgegensteht.

Worum geht es im nächsten Podcast, der auf Spotify und Co. bereits zu hören ist? Unter anderem berichten wir von einem Workshop, in dem Thesen zu der Frage erarbeitet wurden, warum wir die Veränderung zur kollegialen Führung überhaupt angehen. Die Ergebnisse, die sich daraus ergeben haben, werden uns sicherlich noch lange beschäftigen. Und bis zum nächsten Podcast geht es weiter mit den Arbeitskreisen. Wie wird etwa der Portfolio-Kreis in seine Arbeitsphase starten? Eines ist in diesem Podcast-Gespräch einmal wieder klar geworden: Organisatorische Veränderung ist auch für ein agiles Unternehmen wie Seibert Media kein Kinderspiel. Es bleibt spannend!

Weiterführende Infos

From Teamwork to Network: Einblicke in die Organisationsentwicklung bei Seibert Media
Agilität neu denken: Durch kollegiale Führung den Spagat zwischen Chaos und Konzern meistern
Agile Leadership: Nützlicher Ansatz für moderne Führung oder gefährliche Denkfalle?


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